Marco Balzano: Ich bleibe hier
Besprechung
Wer kennt nicht den Kirchturm, der aus dem Südtiroler Reschensee herausragt und heute zahlreichen Touristen als Fotomotiv dient? Wie ein Fingerzeig erinnert die Kirchturmspitze an eine vor 70 Jahren untergegangene Welt, die sich unter der Wasseroberfläche befindet. „Ich bleibe hier“ ist die trotzige Antwort einer Familie aus Graun auf die zwei großen Herausforderungen: Sowohl zwischen 1939 und 1943 als auch in der Nachkriegszeit wurden sie dazu gezwungen, sich dazu zu entscheiden, entweder die Heimat zu verlassen oder mit allen Konsequenzen zu bleiben.
Erzählerin ist Trina, eine couragierte Frau, die die Geschichte ihres Lebens ihrer Tochter Marica erzählt. Bis ins Jahr 1922 schien es, „als käme die Geschichte nicht bis herauf“. Dies ändert der Marsch auf Bozen durch Mussolinis Schwarzhemden. Jetzt werden alle Dorfnamen italianisiert, die Südtiroler Trachten und Deutsch zu sprechen verboten. Der Duce schickt immer mehr Italiener in die Bergwelt, um die Bevölkerungsstruktur langsam zu verändern. Trina, die Lehrerin werden wollte, muss in den Untergrund gehen, um heimlich den Kindern Deutsch zu lehren. Zu dieser Zeit wird auch das alte Staudammprojekt unter dem Motto „Der Fortschritt ist mehr wert als eine Handvoll Häuser“ energisch vorangetrieben. Viele Bauern hoffen auf Hitler, der sie von den verhassten italienischen Faschisten befreien sollte. Tatsächlich müssen sie sich zwischen zwei faschistischen Diktaturen entscheiden: Die „Optanten“ folgen den Versprechungen der Deutschen und wandern ins Deutsche Reich aus, die „Dableiber“ versuchen dagegen, sich aus ihrer Heimat nicht vertreiben zu lassen. Erich erklärt dies seiner Familie folgendermaßen: „Wenn wir weggehen, haben die anderen gewonnen.“ Die Spaltung geht bis in Trinas Familie: Marica verschwindet heimlich mit ihrer Tante und ihrem Onkel ins Deutsche Reich und lässt ihre eigene Familie verstört und enttäuscht zurück. Die Erzählung der Mutter ist ihr Versuch der Bewältigung dieses Verlusts. Da die Nationalsozialisten ab 1943 die Macht in Südtirol an sich reißen und sich an den „Dableibern“ rächen, fliehen Trina und Erich in die Berge. Bis Kriegsende verbringen sie die Zeit unter größten Entbehrungen auf der Flucht in den Bergen, immer kurz davor von den Nationalsozialisten erwischt und hingerichtet zu werden. Nach Kriegsende kehren sie in ihr Dorf zurück und engagieren sich im Widerstand gegen das von der italienischen Regierung in Rom wieder neu aufgenommene Staudammprojekt. Trotz unglaublichen persönlichen Engagements wird mit menschenverachtender Brutalität der sechs Kilometer lange Stausee durchgesetzt. Zwar werden die Bauern wieder vor die Wahl gestellt, doch alle 163 Häuser werden gesprengt und alle, die dableiben wollen, werden in ein neues Graun umgesiedelt.
Didaktische Hinweise
Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ kann allen Schülerinnen und Schüler, die sich für die jüngere Zeitgeschichte interessieren, empfohlen werden. In der Familiengeschichte von Trina und Erich spiegelt sich die Weltgeschichte. Anhand des Buches kann die Geschichte Südtirols nachvollzogen werden; einem Volk, das als stolze Österreicher in den Ersten Weltkrieg zog, sich danach als eine italienische Provinz unter Mussolinis Macht wiederfand, 1943 von Hitlers Regime ins Deutschen Reich gezwungen wurde und nach Kriegsende zur italienischen Republik gehörte. Niemand nahm Rücksicht auf die Kultur der Südtiroler, was sich an der Sprachpolitik deutlich aufzeigen lässt. Darüber hinaus dokumentiert Balzano das Staudammprojekt und gibt damit denen eine Stimme, die alles verloren haben. Im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg und dem am 21. Oktober 1939 geschlossene Hitler-Mussolini-Abkommen zu Umsiedlung der deutschen Bevölkerung in Südtirol können Passagen aus dem Roman auch sehr gut im Geschichtsunterricht behandelt werden. Auch für den Italienischunterricht in der Oberstufe ist der Roman sehr zu empfehlen.
Da vielen Schülerinnen und Schüler der Kirchturm, dessen Spitze wie ein Mahnmal aus dem Staudamm ragt, von privaten Urlaubsfahrten über den Reschenpass in Richtung Italien bekannt sein dürfte, kann der Roman durch die persönliche Lebensgeschichte von Trina und Erich dazu beitragen, den Schülerinnen und Schülern dieses Aspekt deutsch-italienischer Geschichte anschaulich zu vermitteln.
Gattung
- Romane
Eignung
als Klassenlektüre geeignet und zum VorlesenAltersempfehlung
Jgst. 9 bis 13Fächer
- Deutsch
- Geschichte
- Italienisch
FÜZ
- Werteerziehung
- Politische Bildung
- Interkulturelle Bildung
Erscheinungsjahr
2020ISBN
9783257071214Umfang
280 SeitenMedien
- Buch
- E-Book
- Hörbuch