Stefanie de Velasco: Tigermilch
Besprechung
Drastisch bis schockierend beschreibt die Autorin die Abgebrühtheit, mit der die Teenager Nini und Jameelah auf dem Babystrich erste Erfahrungen sammeln, weil sie neugierig sind und sich auf das wirkliche „Erste Mal“ vorbereiten wollen. Auch ihr Konsum von „Tigermilch“ (Mariacron, Maracujasaft und ein Schuss Milch), das Klauen und der Ton in ihrer Schule sind nicht das, was man sich unter geordneten Verhältnissen vorstellt. Ninis Mutter hat Depressionen, trinkt und verdämmert halbe Tage auf dem Sofa. Jameelahs Mutter arbeitet im Krankenhaus und hat Angst, mit ihrer Tochter in den Irak zurückzumüssen. Die Wohnumgebung eines Berliner Plattenbaus bietet außer einem staubigen Spielplatz wenig Abwechslung. Andererseits begegnen uns mit den beiden Mädchen zwei eindrucksvolle Persönlichkeiten, deren Freundschaft, Lebensfreude und Kreativität (sie haben ganz eigene Ausdrücke in einer Geheimsprache, sie philosophieren über das Leben, den Sex, die Liebe) anrührend und mitreißend wirken. Die eigentliche Handlung kommt in Gang, als die Mädchen Zeugen eines Ehrenmords werden. Tarik mit seinen furchtbaren Erinnerungen an den Bürgerkrieg bringt seine Schwester Jasna um, weil sie einen serbischen Freund hat. Ihre bosnische Familie wird damit in ihrer Community unmöglich. Amir, der minderjährige Bruder und Freund der Mädchen von Kindheit an, nimmt die Schuld auf sich. Es entsteht ein nicht lösbarer Konflikt: Nini will aussagen, Jameelah hat Angst vor allen Kontakten zu Behörden und Amir will das tun, was ihm richtig erscheint. Als Nini sich einem Freund anvertraut und dieser zur Polizei geht, wird zwar der wirkliche Täter festgenommen, aber Jameelah kann der Freundin den Verrat lange nicht verzeihen. Und als die beiden sich wiedergefunden haben, kommt der Brief der Ausländerbehörde, und Jameelah und ihre Mutter müssen weg.
Das Buch ist wirklich überzeugend: Die Sprache ist unverbraucht jung, ohne anbiedernd zu wirken, die Mädchen sind differenziert beschrieben, „cool und pomade“, kindlich-arglos, verloren, tiefsinnig, alles zugleich. Erzählt wird von den Nöten des (weiblichen) Erwachsenwerdens, Konflikten mit Familien und Freunden und der harten Realität der Lebensumstände (Geldmangel, Perspektivlosigkeit, überforderte und unfähige Eltern, Konflikte wegen unterschiedlicher ethnischer Herkunft). In ihrer Art, sich mit den Angeboten und Zumutungen des Lebens auseinanderzusetzen, dürften die Hauptfiguren auch für Leserinnen aus behütetem Umfeld ein Identifikationsangebot sein. Ein überzeugendes Romandebüt: kraftvoll, entlarvend, herzzerreißend!
Didaktische Hinweise
Ärgerlich der reißerische Klappentext, ansonsten als Leseangebot in der Schulbibliothek unbedingt zu empfehlen, als Klassenlektüre aber nur, wenn das Klima innerhalb der Klasse gut ist und die Beziehung zum Lehrer/zur Lehrerin vertrauensvoll. Fünf Vorschläge für die Lektürebesprechung:- Ist die Widmung „Für Mädchen“ ein Hinweis darauf, dass das Buch für männliche Leser ungeeignet ist? - Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Buch und den zu Beginn abgedruckten Strophen des Eichendorff-Gedichtes? - Nini und Jameelah spielen oft mit der Sprache. Zeigen Sie das an ausgewählten Beispielen und beschreiben Sie die Effekte. - Jameelah spricht wiederholt von der „verfaulten Welt“. Erklären Sie das auch unter Heranziehung anderer Textstellen. Vergleichen Sie diese Einstellung mit dem Märchen aus Büchners „Woyzeck“ und ziehen Sie Parallelen zwischen dem Buch und dem Stück. - Welche Erwachsenen versagen in dem Buch und welche nicht? Gibt es für ihr Verhalten Erklärungen?
Gattung
- Romane
Eignung
themenspezifisch geeignetAltersempfehlung
Jgst. 9 bis 13Fächer
- Deutsch
Erscheinungsjahr
2013ISBN
9783462045734Umfang
279 SeitenMedien
- Buch