Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa
Besprechung
Abschied von Europa – ein brillanter Roman über den Untergang unserer Kultur
Im ersten Moment ist der Leser versucht zu glauben, einem niederländischen Karl Ove Knausgård aufgesessen zu sein, denn der Ich-Erzähler trägt den Namen des Autors, wohnt wie der Autor zunächst in Genua und hat Romane geschrieben, die dieselben Titel tragen wie die Pfeijffers, aber der Hyperrealismus verflüchtigt sich recht schnell und macht Metaphern, Symbolen und einer komplexen Intertextualität Platz.
Die Zeitstruktur ist ebenfalls vertrackter, als man das von naturalistischen Nacherzählungen erwartet. In der Erzählgegenwart checkt ein unglücklich verliebter Autor im Grand Hotel Europa ein, dessen genaue geographische Koordinaten man im Roman vergeblich sucht, und damit hätte man schon den ersten Hinweis darauf, dass es um etwas Anderes geht als um die Lebensgeschichte des Erzählers. Die Begegnung mit dem Hotelpagen Abdul, der die Geschichte seiner Flucht nach Europa erzählt, eröffnet einen weiteren Erzählstrang. Im Hotel will sich der Protagonist schreibend mit seiner gescheiterten Liebe zu Clio auseinandersetzen, und spätestens mit der Erwähnung der Göttin der Geschichte wird deutlich, dass dieser Roman viel mehr ist als eine Erzählung über eine Romanze, aber die ist dieses Werk eben auch.
Darüber hinaus ist es eine überaus kluge und tiefsinnige Reflexion über die Ursachen und Folgen des Massentourismus, über Flucht und Migration, über Europas Vergangenheit und Zukunft, über die Globalisierung, über das kapitalistische Wirtschaftssystem, über Lüge und Wahrheit in den sogenannten sozialen Medien. Mit anderen Worten – ein Roman, der unsere Lebenswelt im 21. Jahrhundert kongenial abbildet und der dabei immer wieder auf Thomas Manns „Zauberberg“ verweist; die Parallelen sind so offensichtlich wie erschreckend, denn man würde gerne hoffen, dass die auf dem Zauberberg versammelte dekadente, absterbende Zivilisation, die mit dem Ersten Weltkrieg krachend untergeht, nicht gar so viel Ähnlichkeit mit den im Grand Hotel versammelten Stammgästen hat, zu denen der Ich-Erzähler schnell zählt und die von einem Majordomus namens Montebello liebevoll betreut werden.
Zwar macht ihnen kein Weltkrieg den Garaus, aber auch ihre Tage und die des verfallenden Hotels sind gezählt, denn das Gebäude wird von Herrn Wang gekauft und den Bedürfnissen chinesischer Touristen angepasst. Dabei wird auch der Majordomus entlassen; dagegen nun legen die alten Stammgäste, eine französische Dichterin, ein griechischer Unternehmer und ein hochgebildeter polnischer Gelehrter, auf Betreiben des Ich-Erzählers Widerspruch ein. Allerdings ist es nicht so einfach, eine Erklärung abzufassen, der alle Europäer zustimmen können. Was dabei herauskommt, ist so komisch wie verschwurbelt und der Ich-Erzähler seufzt verzweifelt: „Ich wurde von tiefer Trauer ergriffen. Alle waren wir einhelliger Meinung gewesen, Montebellos Entlassung müsse rückgängig gemacht werden, doch wenn dieses Papier von unserer Einhelligkeit zeugen sollte, dann wollte ich nicht wissen, wie unsere Uneinigkeit ausgesehen hätte.“
Die in den Rückblenden erzählte Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Clio geht deshalb in die Brüche, weil die hoch qualifizierte Kunsthistorikern im Italien des 21. Jahrhunderts keine adäquate Stelle findet, da die politischen und gesellschaftlichen Strukturen derart verkrustet sind, dass junge Menschen nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern nur aufgrund ihrer Beziehungen eingestellt werden. Clio zieht mit dem Ich-Erzähler zunächst nach Venedig, das als Modell für eine „Zukunft“ Europas fungiert: eine tote Stadt, die lediglich als Kulisse für Touristen aus China und den USA herhalten muss. Schließlich nimmt Clio ein Angebot aus Abu Dhabi an; sie soll in der Dependance des Louvre in den Vereinigten Arabischen Emiraten als wissenschaftliche Assistentin arbeiten. Clio begreift, dass die Scheichs nicht an den Kunstwerken, die ihnen gegen viel Geld vom Louvre geliehen werden, interessiert sind, es geht auch nicht um die Ankurbelung des Tourismus, stattdessen haben sie „entdeckt, dass wir in Europa noch etwas haben, das wir mit dem für sie merkwürdigen Wort ‚Kultur‘ bezeichnen. Wenn Paris für den Louvre berühmt ist, dann kaufen sie sich halt einen Louvre. Was nicht bedeutet, dass sie damit etwas anfangen können. Sie wollen es einfach nur haben, damit sie sagen können, dass sie es haben.“
Der Ich-Erzähler ist entsetzt und erklärt Clio, dass er außerhalb Europas nicht leben könne. So verlässt er sie und reist ins Grand Hotel Europa, als aber die Besitzerin, Europa, zu Grabe getragen worden ist, hat er keinen Platz mehr, an dem er leben kann, und folgt Clio in die Wüste.
Didaktische Hinweise
Nach der Lektüre ist der Leser erschüttert und ratlos, denn Pfeijffer bereitet in den fast essayistischen Passagen des Romans die Fakten und Zusammenhänge so überzeugend auf, dass man sich schwerlich eine freundlichere Zukunft Europas als die eines Kulturparks denken kann. Aber gerade dies ist für die Besprechung im Unterricht ein genialer Ausgangspunkt. Die Schülerinnen und Schüler sollten selbst Ideen entwickeln, wie man Europa dieses Schicksal ersparen könnte.
Die Fakten und Zahlen, die Pfeijffer anführt, könnten in Zusammenarbeit mit anderen Fächern wie Geografie, Sozialkunde und Wirtschaft und Recht recherchiert und kommentiert werden. Dabei könnte man auch das Interview mit dem Autor im SZ Magazin vom 15. Oktober 2020 heranziehen, in dem Pfeijffer über Europa und seine Werte sowie über die europäische Identität spricht. Auch die Rezension in der Süddeutschen Zeitung von Kristina Maidt-Zinke ist hilfreich. Auf der Website des Deutschlandfunks findet man ebenfalls eine Besprechung des Romans, außerdem kann man sich ein Porträt über den Schriftsteller anhören.
Gattung
- Romane
Eignung
themenspezifisch geeignet und zum VorlesenAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Deutsch
- Geografie/Erdkunde
- Geschichte
- Interkulturelle Erziehung
- Philosophie
- Sozialkunde/Politik und Gesellschaft
- Wirtschaft/Recht
FÜZ
- Interkulturelle Bildung
- Kulturelle Bildung
- Politische Bildung
- Werteerziehung
- Bildung für Nachhaltige Entwicklung (Umweltbildung, Globales Lernen)
Erscheinungsjahr
2020ISBN
9783492070119Umfang
560 SeitenMedien
- Buch
- E-Book