mobile Navigation Icon

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupul

Besprechung

Das Buch wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ausgezeichnet. Die Autorin schreibt hier in einer Art literarischen Biografie über ihre Familiengeschichte. Mit 67 Jahren gelingt es ihr eher zufällig über das Internet das Leben ihrer Mutter, die sich als noch junge Frau umgebracht hat, zu rekonstruieren. Bis dahin hatte sie außer ein paar Familienfotos und sporadischen Bemerkungen quasi überhaupt nichts über ihre Herkunft gewusst. Bewusst war ihr nur, schmerzlich genug, dass sie Kind russischer Zwangsarbeiter war, in den fünfziger Jahren wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt, beschimpft und gedemütigt, sie empfand sich und die Ihren als eine Art „Menschenunrat“, so vermittelte es die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Nun wird klar, dass die Mutter einer großbürgerlich-adeligen Familie aus Mariupul am Asowschen Meer entstammt. Enteignet, aller Privilegien enthoben, hat sie Revolution, Chaos des Bürgerkriegs, Hunger, Deklassierung, Stalin, Zwangsarbeit in Deutschland, alle Schrecken des Jahrhunderts erlebt, und musste am Ende wie viele ihrer Leidensgenossen noch fürchten, zurückkehren zu müssen, was wohl Tod oder Lager bedeutet hätte, denn Stalins Sowjetunion ging nicht zimperlich mit ehemaligen Zwangsarbeitern um.

Aber auch in Deutschland bleibt Wodins Mutter ein menschenwürdiges Leben verwehrt. Die Familie kommt auf einem Industriegelände unter, arm, deklassiert, Alkohol und Gewalt sind an der Tagesordnung. Reste des früheren Glanzes zeigen sich allenfalls im zerbrechlich-anziehenden Äußeren der Mutter und dass sie sich ein einziges Mal an ein Klavier setzt (bei einer russischen Bekannten, die dann aber auf Geheiß ihres Ehemanns den Kontakt mit der „Asozialen“ abbrechen muss) und Chopin spielt. Die Mutter zerbricht letztlich und ertränkt sich. Der lange Schatten der Geschichte lastet aber auch auf den Töchtern, und gebannt und fassungslos folgt man dieser Geschichte und dem, was Menschen ertragen mussten.

Ein Buch, das die Schrecken des letzten Jahrhunderts an einer Familie aufzeigt und zudem das Schicksal russischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener literarisch gestaltet, denen bisher eine solche Darstellung fehlte. Ganz neu auch der Bezug zum Internet, derartige Recherchemöglichkeiten waren noch vor wenigen Jahren unmöglich. Historischer Romane, FamilienRomane, Realität und Fiktion (so könnte es gewesen sein …), Anklageschrift, Charakterbild, es fällt schwer, das Buch einzuordnen, das macht aber gleichzeitig seinen großen Reiz aus.

Didaktische Hinweise

Unbedingt zu empfehlen, als Leseangebot, Grundlage für Referate (auch im Vergleich zu Familiengeschichten von Schülern) oder für schriftliche Hausarbeiten.

Anregungen zur Bearbeitung:- Wie wird die Stellung der ehemaligen Zwangsarbeiter in der Nachkriegszeit in Deutschland beschrieben? Erkundigen Sie sich bei Zeitzeugen aus Ihrer Verwandtschaft/Bekanntschaft über deren Erinnerungen/Erfahrungen. - Recherchieren Sie in Ihrer Gemeinde, ob es in Hinsicht auf Zwangsarbeiter eine Erinnerungskultur gibt.- Natascha Wodins Erinnerungsanliegen wird auch mit W.C. Sebalds Schreiben verglichen. Untersuchen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede.- Untersuchen Sie das poetische Verfahren Wodins in Hinsicht auf Fakten und Fiktion.

Gattung

  • Romane

Eignung

als Klassenlektüre geeignet

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Deutsch
  • Geschichte

Erscheinungsjahr

2017

ISBN

9783498073893

Umfang

368 Seiten

Medien

  • Buch