Antonio Scurati: M
Besprechung
Der Sohn des Jahrhunderts
Der Roman stellt den ersten Teil einer Trilogie über Benito Mussolini dar. Scurati handelt dabei nicht jedes einzelne Lebensjahr ab, sondern beginnt mit den Jahren 1919-1924. Innerhalb dieser sechs Jahre hat es der Sohn eines Schmieds aus Dovia di Predappio in der Emilia-Romagna, der „Polit-Zigeuner und Autodidakt der Macht“ geschafft, jüngster italienischer Premierminister und jüngster Staatschef der Welt zu werden, ohne über Regierungs- und Administrationserfahrung zu verfügen. Wie konnte es dazu kommen, dass der italienische König 1922 ihn mit der Regierungsbildung beauftragt hat und wie schaffte es der „Duce“, dass bei der Wahl 1924 64,9% der Italiener für seine faschistische Liste stimmten? Genau diese Fragen beantwortet Scurati in seinem umfangreichen Werk, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, so etwas wie Bewunderung für diesen Erfolg beim Leser zu evozieren. Zunächst wird der historische Boden dargestellt, auf dem die neue Bewegung Frucht bringen konnte: Die Verträge von Versailles 1919 stellten für die siegreichen Italiener eine Schmach dar; man bestimmte über sie, statt mit ihnen die Neugestaltung Europas vorzunehmen. Wie unter einem Brennglas zeigt sich dies an der kleinen Stadt Fiume, die nicht mehr zu Italien gehören sollte. Mussolini wird zunächst als Teil der sozialistischen Bewegung vorgestellt. Nach dem vollkommenen Zerwürfnis wurde er ihr erbittertster Gegner. Er gründete die Fasci, aber zunächst ohne großen Erfolg: Bei den Wahlen 1919 folgte Italien den Sozialisten, die Faschisten errangen kein einziges Mandat. Der gelernte Grundschullehrer gründete mit dem “Il Popolo d’ Italia” ein rechtes Propagandablatt und bewies, dass er ein Gespür für den richtigen Moment und die gegenwärtige Stimmung im Volk hat: „Diese Nachkriegszeit ist ein Sturm, ein tosendes Meer – es gibt nur Triebe, Chaos, Zuckungen, ohnmächtige Regierungen, demagogische Predigten, den Stachel, der einen nicht schlafen lässt.“ Zusammen mit anderen Gesinnungsgenossen gründete er die “Squadre”, paramilitärische faschistische Einheiten, die als mordende Mobs quer durchs Land zogen und Sozialisten und Kommunisten brutal hinrichteten. Die Ordnung in Italien wurde durch die Gewaltexzesse so nachhaltig erschüttert, dass sich die Kräfteverhältnisse langsam nach rechts verschoben. Wie bei einem Domino-Effekt verbreitete sich der Faschismus durch alle gesellschaftlichen Schichten. Als einer der ersten hat es Mussolini verstanden, die Wut der Gedemütigten, der Kriegsheimkehrer, der Versehrten, Deklassierten und aller Unzufriedenen für seinen politischen Kampf zu nutzen. Bewusst provozierte er eine Eskalation der Gewalt, warf aber der sozialistischen Partei vor, einen Bürgerkrieg anzustreben. Schon 1921 ist der Faschismus der neue, dominierende Faktor in der italienischen Politik. Alle verzweifelten Bemühungen der Regierenden, den Faschismus zu domestizieren, verliefen ins Leere und stürzten die Demokratie in eine heftige Krise. Der Einzug der faschistischen Partei 1921 ins Parlament läutete endgültig den Niedergang des Parlamentarismus ein. Vom Willen besessen, die ganze Macht zu ergreifen, wagte Mussolini 1922 den „Marsch auf Rom”. Am Ende steht aber nicht nur der unumschränkt herrschende Mussolini, sondern auch ein anderer „M”: Der Sozialist Giacomo Matteotti musste als der entschiedenste Gegner Mussolinis mit seinem Leben bezahlen. Am Ende seiner letzten Rede vor dem italienischen Parlament war ihm klar, dass er gerade seine Grabrede gehalten hatte. Für den Leser müssen am Ende der Lektüre der Mut und die Unerschrockenheit Matteottis, mit der er sich für die Bürgerrechte und die Demokratie eingesetzt hat, genauso in Erinnerung bleiben, wie die grausame Brutalität, mit der Mussolinis Schergen diesen und andere Demokraten getötet haben.
Didaktische Hinweise
Natürlich stellt dieses umfangreiche Buch keine Klassenlektüre dar. Es wirft aber aus einer anderen, nämlich nicht-deutschen Perspektive einen hervorragenden Blick auf die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in einem europäischen Nachbarland. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden nationalen Geschichten werden mehr als augenfällig. Gerade in Zeiten, in denen man mit Aktionen wie „Schule ohne Rassismus” oder „Bunt statt braun” wieder deutlicher öffentlich darauf hinweisen muss, dass die Demokratie der mündigen Bürger bedarf, ist diese Lektüre für Lehrkräfte eine Bestärkung in ihrem Tun. Vor allem Giacomo Matteottis mutiges Eintreten gegen den Faschismus vermag uns heute ein wichtiges Vorbild zu sein. Das Buch wurde im „Literarischen Quartett“ am 05.06.2020 besprochen und erhielt 2019 den renommierten italienischen Literaturpreis „Premio strega“.
Gattung
Sachbuchkategorie
- Biografien, Autobiografien, Porträts
- Geschichte, Archäologie
- Politik, Gesellschaft
Eignung
als Theorie für LehrkräfteAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Geschichte
- Italienisch
- Sozialkunde/Politik und Gesellschaft
FÜZ
- Kulturelle Bildung
- Politische Bildung
Erscheinungsjahr
2020ISBN
9783608985672Umfang
830 SeitenMedien
- Buch
- E-Book