Christine Nöstlinger; Sophie Schmid (Illustr.): Der Überzählige
Besprechung
Ein trauriges Kinderbuch über ein persönliches Erlebnis Nöstlingers, das viele Gesprächsanlässe bietet.
Von den Kinderlandverschickungen nach dem Krieg berichten nur wenige Werke – dieses Buch wählt dafür die Perspektive des Kindes. Und dieses Kind will eigentlich gar nicht „kinderlandverschickt“ werden. Um sich vier Wochen lang satt zu essen, wird es dennoch mit einem kleinen Koffer losgeschickt. Die Karte, zu welchem Bahnhof die Reise geht, hängt nicht wie heute am Koffer, sondern um die Hälse der Kinder. Als sich das kleine Mädchen, das die Geschichte in Ich-Perspektive erzählt, im Zugabteil aus dem offenen Fenster beugt, weht der Zettel und damit ihre Haltestelle fort. Sie traut sich nicht, jemandem ihr Ungeschick zu beichten und hofft darauf, dass ihr die richtige Station noch einfalle ... und steigt dann am Ende mit den letzten 20 Kindern aus. Während sich die Bauern der Reihe nach Kind für Kind aussuchen, hofft sie inständig, nicht übrig zu bleiben. Sie hat Glück und wird als zehntes Kind gewählt. Dennoch ist ein Kind mehr da, ein rothaariger, sommersprossiger Bub bleibt übrig: „Der ist überzählig … Ana wird ihn nehmen müssen!“ Schluchzend muss der Junge mit einem Bauern, der ihn noch mit „drauf“ nimmt, gehen. Alle vier Wochen lang wird der Junge sich nicht in die Gruppe der Dorfkinder einfinden, zu schnell kommen ihm die Tränen.
Nöstlinger, die hier auf berührende Weise von ihrer eigenen Kinderlandverschickung berichtet, schafft es alle vier Wochen lang nicht, ihre Angst zu überwinden und zu gestehen, dass sie die eigentlich Überzählige ist. „So viel Mut kann man von einer Achtjährigen auch nicht verlangen.“
Didaktische Hinweise
Mit diesen Worten endet das Buch. Sie zeigen deutlich, mit welchen Schuldgefühlen sich Nöstlinger getragen hat. Gerade der letzte Satz kann Ausgangspunkt für Gespräche mit Kindern sein: Was ist Schuld und wer hat hier Schuld? Wie kommt es dazu, dass Mütter ihre Kinder gegen deren Willen vier Wochen lang wegschicken? / Welcher zeitgeschichtliche Hintergrund veranlasst sie dazu?
Auch handlungs- und produktionsorientierte Zugänge bieten sich an: Die von Sophie Schmid geschaffenen, in Brauntönen gehaltenen Bilder können mit Sprech- und Gedankenblasen zum Inhalt ergänzt werden.
Wer das Buch liest, meint, Nöstlinger sitze ihm gegenüber und erzähle ihre Geschichte. Das liegt an der Kombination von Ich- Perspektive und dem typischen, mündlich anmutendem Erzählstils Nöstlingers. So eignet sich das Buch auch gut, um vorgelesen zu werden. Die ausdrucksstarken Illustrationen können parallel dazu gezeigt werden.
Letztere verweisen durch Gestaltungstechnik und Farbwahl auf eine vergangene Zeit, das Cover macht die beklemmende Stimmung des Buchs deutlich. Eine andere Gestaltung ist für dieses Thema aber kaum vorstellbar, auch wenn Kinder farbige Illustrationen bevorzugen. Ein insgesamt wirklich wertvolles Buch, mit dessen Lektüre sich viele inhaltliche Anschlüsse bieten.
Gattung
- Erstlesebücher
Eignung
themenspezifisch geeignet und zum VorlesenAltersempfehlung
Jgst. 2 bis 5Fächer
- Deutsch
- Ethik/Religionslehre (Evang. Religionslehre
- Geschichte
FÜZ
- Politische Bildung
- Werteerziehung
Erscheinungsjahr
2019ISBN
9783707452327Umfang
40 SeitenMedien
- Buch