Margot Kleinberger: Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt – als Kind in Theresienstadt
Besprechung
Es ist ein sehr persönliches Buch, das die Geschichte einer „ganz normalen deutschen Familie“ zum Gegenstand hat. Margot Kleinberger, geb. Kreuzer erzählt: „Meine Eltern waren stolz darauf, Deutsche zu sein. Mein Vater diente im Ersten Weltkrieg, meine Mutter versorgte als Krankenschwester die Kranken ... und wir waren Juden. Das war kein Widerspruch“. Die reich bebilderte Familiengeschichte reicht vom ausreisewilligen Großvater, Wolf Kreuzer aus Kalisch, dessen Vision von einem Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zwischen Köln und Bremerhaven aus Geldmangel in Bückeburg endete, wo er als Altstoffhändler seine achtköpfige Familie ernährte. „Vadder Kreuzer“ wurde mit Gattin Rose Goldberg, geb. Levin, sogar zum Besuch Kaiser Wilhelms II. am Hof des Fürsten zu Schaumburg-Lippe eingeladen. Margots Vater Hermann schloss „das Einjährige“ und eine Banklehre erfolgreich ab und meldete sich als Kriegsfreiwilliger zu den „Liegnitzer Grenadieren“ – wie fast alle deutschen Juden als Patrioten. Als Kriegsinvalide, hoch dekoriert kehrte Hermann Kreuzer in seinen Zivilberuf zurück, in die gehobene Laufbahn bei der Reichsbank (Berlin, Hannover). Die Autorin wurde am 05.03.1931 in Hannover geboren, wo die jüdische Gemeinde 6 000 Mitglieder unter einem Rabbiner zählte und auf ihre Synagoge im byzantinischen Stil stolz war. Das Einkommen des Reichsbankinspektors erlaubte den bescheidenen Luxus eines Opel P 4, die Pflege familiärer Bande nach Bückeburg, wo man sonntags oder zum Pessachfest die „feine Küche“ genoss. Margot Kreuzer berichtet von der „wunderbaren Zeit“ im jüdischen Privatkindergarten, wo sie Lesen, Schreiben, Rechnen, Häkeln und Stricken lernte. Die Autorin berichtet von der ersten Erfahrung mit der NS-Rassenpolitik, als ihr Vater, der „überkorrekte deutsche Bankbeamte“, 1936 „außer Dienst gestellt“ wurde, weil er Jude war. Der Lebensstil der Familie änderte sich, Margot suchte Zuflucht bei ihren Büchern – eine gute Vorbereitung auf die Grundschule (Hannover, Meterstraße), wo die Sechsjährige – nun auf sich bezogen – ein weiteres Schockerlebnis hatte: jüdische Kinder durften dort nicht mehr eingeschrieben werden, ihnen wurden zum 13.04.1937 Räume in der Jüdischen Gemeinde (Lützowstraße, Aufbauschule) zugewiesen, wo der Unterricht zunächst von Nichtpädagogen erteilt wurde. Margot Kreuzer erzählt „ihre“ Geschichte heute auch vor Schulklassen: von der rasanten Ausbreitung des NS-Regimes, von den „Stürmer-Karikaturen“ von Juden, die wesentlich dazu beitrugen, dass „wir alle Freiwild wurden“ – angepöbelt, mit Steinen beworfen und beschimpft. Es ist Margots dritte Erfahrung, festzustellen, dass „alle es sahen, niemand eingriff“. Ausgrenzung, Berufsverbote, sozialer Abstieg – Hunger. Die erzwungene Fähigkeit, sich anzupassen, reichte nicht mehr aus. Wir erfahren von dem Schlachter, der den Kreuzers Bückware in seiner Privatwohnung verkaufte, von einem Herrn, der „vor jedem, der einen Judenstern trug, den Hut zog und sich tief verneigte“, aber auch der Beschimpfung und erzwungenen Selbstbezichtigung als „Judensau“ und den Ereignissen der Reichspogromnacht („Scherben und braune Uniform“). Die Zeit zwischen 1939 und 1941 reiht die Schockerlebnisse aneinander: Schließung der jüdischen Einrichtungen und Eröffnung von 14 „Judenhäusern“, Zusatzstempel auf den Personalpapieren „J“, Zwangsvornamen „Israel“ und „Sara“, die Arisierung aller jüdischen Geschäfte, Fabriken und Arztpraxen zu Gunsten „verdienter Nazis“ – bis am 15.12. 1941, als die ersten „Züge in die Hölle der Deutschen“ (Deportation von 1500 „normalen Juden“ von Hannover nach Riga) starteten und die Familie Kreuzer im Judenhaus an der Ellern-Straße zurückblieb. Ihr Abtransport erfolgte am 24.07.1942 ab Bahnhof H.-Fischerhof in der „Holzklasse“ als Transport Nummer VII/1 387 (über Dresden und Bauschowitz (Bohusovice) und auf der Straße nach Theresienstadt (Terezin), wo sie ihre „Ubikation“ in der Festung aus dem 18. Jhdt., genutzt als Kaserne der Habsburger, fanden. Diesem Lebensabschnitt gilt der Kern der Autobiographie (S. 77 ff.). Detailliert schildert sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen (Zwangsarbeit) als zwölfjährige „Gruppenleiterin“ (!) in der „Ordonnanz der jüdischen Selbstverwaltung“ und als Transporthilfe für den Innenbereich – „wir Kinder als Helfer des Todes“ mit Abzeichen und Armbinde, Funktionshäftlinge gewissermaßen. Margot macht Bekanntschaft mit Angehörigen der Familie Lieben (Hochschullehrer an der Karls-Universität Prag, Rabbiner), den Brüdern Markus und Eli Flesch (Frankfurt), der Familie Merzbach (Berlin), dem Mathematiker und Physiker, der Auftragsarbeiten für die V2 erledigte, oder mit Frieda, einer 20-jährigen Zionistin, die zeitweise in einer unterirdischen Munitionsfabrik im Harz ihr Dasein fristete, schließlich mit Klara Berliner, der Tochter des Begründers der Dt. Grammophon GmbH (Schellackplatten, Hannover). Für den Besuch einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes am 22.06.1944 sollte das KZ Theresienstadt herausgeputzt werden – auf die propagandaträchtige Aktion fielen diese „Gäste“ prompt herein, ein voller Erfolg für die Nazis (vgl. NS-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“). Margot Kreuzer berichtet, wie sie zwei Theaterstücke für Kinder und Jugendliche geschrieben hat („Der Chanukka-Traum“, „Vier Jahreszeiten“), erzählt, wie die Kinderoper „Brundibar“ aufgeführt und wie Kurt Gerron (Regisseur und Schauspieler aus Holland) ins KZ kam und trotz einer Filmproduktion im Sinne der Nazis (August/September 1944) ins Vernichtungslager Auschwitz überstellt wurde. Die Autorin erwähnt eine Begegnung mit Leo Baeck, berichtet, dass die Leiter der jüdischen Selbstverwaltung nach ihrer Weigerung, im Oktober 1944 zehn Transporte nach Auschwitz zu organisieren, von der SS ermordet wurden (Jakob Edelstein, Dr. Paul Eppstein) und wie deren Nachfolger Dr. Benjamin Murmelstein (Wien) den Auftrag ausführte. Wir erfahren vom Liebesglück zwischen Frantisek und Liza, die in ihrer Mansarde („Kumbal“) eine Tochter zur Welt brachten, um schließlich in getrennten Transporten nach Auschwitz deportiert zu werden. Die Autorin geht auf die Funktion Adolf Eichmanns ein, erwähnt, wie das Leben ihres Vaters, ja der Familie durch den Zuruf eines SS-Mannes, der auch bei den „Liegnitzern“ gedient hatte, gerettet wurde und wie SSUSchF Rudolf Haindl einen jüdischen Gestapo-Spitzel aus Hannover „ins Glied zurück“ beorderte, um ins KZ Auschwitz deportiert zu werden. Nach diesen Deportationen war Theresienstadt fast „leer“ – es folgten Mischlings-Kinder, Juden, die lange Jahre sich in Verstecken sicher wähnten, Geliebte von NS-Dienstgraden, die propagandagläubig hofften, das „Vorzeigelager der Nazis“ zu überleben, ungarische Jüdinnen und Kinder, die als „Kugelfang“ für die deutsche Ostfront gedacht waren. Zur „Endlösung in Theresienstadt“ sollte es nicht kommen, da ein Fahrzeug des Roten Kreuzes aus Genf im Gegenzug für ein Telegramm, dass das Zyklon B nicht angekommen sei, die SS-Wachmannschaften vor der anrückenden Roten Armee rettete. Margot Kreuzer überlebte Theresienstadt konnte als 14-Jährige das KZ am 16.06.1945 in Richtung Deutschland verlassen: Dresden – Hannover oder Deggendorf für „Auswanderungswillige“ stand zur Entscheidung. Familie Kreuzer entschied sich für den „Aufbruch zurück“ nach Hannover, wo Margot im Altsprachlichen Sophien-Gymnasium eingeschrieben wurde. Sie lernte beim Zionisten Nissim Tikocinski „Iwrith“ und trat in den Dienst von Rabbi Lubinski und jüdischer Hilfsorganisationen (Chamischwar Asar B’Schwat 5708, 1947). Sie heiratete Josef Kune (1948) und nach ihrer Scheidung 1966 David Kleinberger. Sie ist Mutter von 6 Kindern und 15 Enkel- kindern. Mit vorliegendem Buch fasste sie zusammen, was sie seit 1981 auf Bitten von Lehrkräften in Hannover deutschen Jugendlichen erzählt hat – die bewegende Geschichte einer Überlebenden des Holocaust, denn „Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt“. Fächerübergreifende Ziele: Politische Bildung
Didaktische Hinweise
Eine anschauliche, authentische, anrührende und zugleich informative Ergänzung aus individueller Perspektive zum Thema Holocaust
Gattung
- Sachbücher
Sachbuchkategorie
- Biografien, Autobiografien, Porträts
Eignung
für die Schulbibliothek empfohlenAltersempfehlung
Jgst. 8 bis 13Fächer
- Geschichte
- Sozialkunde/Politik und Gesellschaft
- Zusätzliche Fächer (Fachunterricht)
Erscheinungsjahr
2009ISBN
9783770013340Umfang
192 SeitenMedien
- Buch