Melania G. Mazzucco: Tintorettos Engel
Besprechung
Die Perspektive in diesem penibel recherchierten Text von hohem literarischen Anspruch ist sehr geschickt gewählt: Es ist der 80-jährige Maler Tintoretto, der sich in den letzten schlaflosen Tagen und Nächten vor dem Tod mit großer Hellsichtigkeit und scharfer Urteilskraft an sein Leben erinnert. Dabei gibt es über weite Strecken chronologisch erzählende Passagen, die immer wieder durch Zurück- und Vordeutungen durchkreuzt werden. Von Anfang an ist klar, dass Tintoretto Schuld auf sich geladen hat und dies bekennt in „Erwartung des Engels“, so der italienische Titel. Er spielt auf die Todesnähe und zugleich auf die Rolle der Tochter an, die über lange Lebensstrecken sein Engel gewesen ist, dem er in seinen Phantasien noch einmal zu begegnen wünscht. Der deutsche Titel: „Tintorettos Engel“ wirkt auf den ersten Blick eher banal. Nur durch das Titelbild, in das ein Gemäldeausschnitt von einer scheinbar schwebenden Frau eingebaut ist, verweist er auf die Welt des Künstlers. Im Roman selbst kehrt das Engelsthema leitmotivisch wieder. Es gibt etwa ein Wachsmodell an der Atelierdecke, es gibt aber auch die an der Decke schwebende kleine Tochter, deren Willen zum Künstlertum der Vater durch diese drakonische Strafe vergeblich zu brechen versucht, es gibt das Abbild des Mädchens in religiösen Kontexten. Schonungslos geht der Maler im Rückblick mit sich zu Gericht, mit seinen Zeitgenossen und auch mit Gott, den er immer wieder direkt anspricht. Gott hat ihm seine geniale Begabung verliehen, aber, so klagt Tintoretto, Opfer von seiner Seite letztendlich nicht honoriert. Tintoretto sieht die katholische Religion kritisch und neigt sich auch den neuen protestantischen Lehren zu. Er bildet sich sein eigenes Glaubensbekenntnis. Aus finanziellen Gründen und vielleicht auch zur Sicherung seines Seelenheils nach dem Tod schickt er seine Töchter ins Kloster. Es geschieht gegen ihren Willen, denn sie möchten das volle Leben kosten. Es ist sehr berührend, wie diese väterliche Machtausübung auf den Lebenswillen der Töchter prallt. Die Rolle der gegenüber Vater und Ehemann oder Staat und Kirche rechtlosen Frauen in dieser Zeit wird immer wieder beleuchtet. Tintoretto ist sich bewusst, wie gnadenlos er als Vater an allen Kindern gehandelt hat, auch an den Söhnen, die ihm folgen möchten und die er in der Mehrzahl zurückstößt und in Flucht und Tod treibt. Sein Augapfel unter den Kindern ist seine unehelich geborene Tochter Marietta aus einer sehr glücklichen Beziehung mit einer deutschen Druckerstochter. Durch Unglücksfälle hat sie in Venedig, der Stadt des Buchdrucks, als verwaiste Frau keine berufliche Chance erhalten, sondern endet als Prostituierte. Sie lässt Tintoretto, als sie angeblich nach Deutschland zurückkehrt, in Wirklichkeit sich aber auf das Sterben vorbereitet, die sechsjährige Tochter zurück. Um ihr mehr Chancen zu eröffnen, hat sie sie von klein auf in Jungenkleidung gesteckt, die das Kind nun beibehält, um an der Seite des Vaters als Malergehilfe zu arbeiten. Sie lernt begierig alles über Farben, Malgründe und Malweisen. Bald kann sie Teile der Gemälde selbst ausführen. Sie ist der „Funke“ der Inspiration für den Vater, seine Muse, und sie wird selbst zu einer so herausragenden Malerin, dass sie an den päpstlichen und kaiserlichen Hof gerufen wird. Doch der Vater bindet sie unausgesprochen: Sie folgt dem Ruf nicht und verzichtet damit auf die Chance, die erste große Künstlerin der Renaissance zu werden. Ihr zentraler Wunsch bleibt die Nähe zum Vater. Sie signiert ihre eigenen Bilder nicht, so dass später kein Werkverzeichnis erstellt werden kann. Die deutschen Händler, die nach ihrem Tod für den kaiserlichen Hof in Augsburg Ankäufe tätigen wollen, kommen mit leeren Händen zurück. Tintoretto hatte Marietta zuletzt an einen deutschen Künstler verheiratet, obwohl sie lieber im Elternhaus bleiben wollte. Von dem Zeitpunkt an wendet sich das Leben aller ins Unglück: Die Machtansprüche des Vaters zerstören das Leben vor allem der Tochter. Am Schluss kehrt sie in seinen Erinnerungen zurück, als er ihre alten Gewänder auf dem Dachboden noch einmal in die Hand nimmt und Staub und Duft - wie die Madeleines bei Proust - die Bilder und Geräusche von einst beschwören.
Didaktische Hinweise
Als Untersuchungsgesichtspunkt mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe bietet sich die komplexe Romanstruktur an und die Wirkung, die von dieser Schichtung ausgeht. Sie verhindert die Spannung auf den Ausgang zugunsten der Beleuchtung des Gangs des Geschehens. Inhaltlich ist es die breit gespiegelte Lebenswelt im Venedig des 16. Jahrhunderts, dem damaligen kulturellen Mittelpunkt Europas. Die Schlacht von Lepanto kommt zur Sprache, die alljährliche Prozession zu Christi Himmelfahrt mit der Vermählung der Serenissima mit dem Meer, die Rolle der Fugger und die der Laienbruderschaften, der Zünfte, der Dogen und Ratsherren. Wie gnadenlos auch der Kampf der großen Maler dieser Zeit wie Tizian, Veronese, Schiavone und anderer gegen Tintoretto war und umgekehrt, wird aus der persönlichen Erfahrung des Erzählenden mit aller Emotionalität, aber auch Selbstkritik geschildert. Dieser Themenbereich kann zu einem Vergleich der Malweisen führen, der Personendarstellung, ihrer farbigen Gestaltung und der Behandlung von Licht und Schatten. Die Frage kann erörtert werden, warum Tizian zunächst der weitaus geschätztere Künstler war. Auch die biographischen Daten können herangezogen werden, um zu erkennen, wie lang jeder einzelne gebraucht hat, um Anerkennung zu finden. Durch die Innensicht gelingt es der Autorin, die zum Teil intriganten Schritte des Malers auf seinem langen Weg zur Anerkennung sehr anschaulich werden zu lassen.
Gattung
- Romane
Eignung
für die Schulbibliothek empfohlenAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Deutsch
- Geschichte
- Kunst
- Zusätzliche Fächer (Fachunterricht)
FÜZ
- Kulturelle Bildung
Erscheinungsjahr
2010ISBN
9783813503586Umfang
542 SeitenMedien
- Buch