Kathleen Vereecken: Eine größere Welt

Besprechung

Rousseau, Begründer der modernen Pädagogik, hat seine eigenen fünf Kinder im Waisenhaus abgegeben, angeblich aus materieller Not. In den Augen des heutigen Betrachters ein Skandal wurde ein solches Verhalten zur damaligen Zeit milder beurteilt. Das vorliegende Buch erzählt das Leben von Rousseaus ältestem Sohn, fiktiv, aber unter Zuhilfenahme der spärlichen Quellen (offenbar hatte eine Gönnerin, die Herzogin von Luxembourg, versucht, das Schicksal dieser Kinder aufzuklären): Leon wächst unter elenden Umständen bei einer Ziehmutter im ländlichen Frankreich auf. Als Méline, die älteste Tochter der Familie, die ihm sehr zugetan ist, stirbt, geht er mit zehn Jahren nach Paris, wo er ebenfalls in bitterer Armut (seine Wohnung ist so feucht, dass das Wasser von den Wänden rinnt) sein Leben mit allerlei Gelegenheitsarbeiten fristen muss. Er kommt in Kontakt mit allen sozialen Ständen und der Leser unternimmt mit ihm die spannende Erkundung der Stadt Paris. Leons Versuche, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen, führen wohl zum Namen seines Vaters und sogar zu einem Zusammentreffen mit seiner als sehr unbedarft geschilderten Mutter, bleiben aber letztlich ohne Konsequenzen. Dass Leon sein Leben selbst in die Hand nimmt und aus eigener Kraft und Begabung unabhängig von seiner Herkunft meistert, wird angedeutet.

Das Buch erinnert in seinen lebhaft-realistischen Beschreibungen der Zeitumstände teilweise an Süskinds „Parfüm“, das Rätsel um den Vater macht das Buch spannend, die Hauptfigur lädt in ihrer Verlorenheit und Tapferkeit zur Identifikation ein.