mobile Navigation Icon

Angela von Gans; Monika Groening: Die Familie Gans (1350-1963): Ursprung und Schicksal einer wiederentdeckten Gelehrten- und Wirtschaftsdynastie

Besprechung

Das Symbol der Gans auf dem Grabstein eines stillgelegten jüdischen Friedhofs zu Celle führt die Autorinnen auf die Spur der Familie „von Gans“ in ihren Verzweigungen in Nordwestdeutschland und in Europa. Ein abgeblättertes Monogramm auf einem alten schweinsledernen Koffer führt 1969 Angela von Gans (*1947, Melbourne) zum Nachlass ihres 1963 verstorbenen Vaters Josef Paul, gen. Jozsi von Gans (*1897, Cannes): Fotos, Briefe und ein vorbereitetes Manuskript, gedacht für die Nachkommenschaft. Anschaulicher kann man sich den Einstieg in eine Familienchronik nicht vorstellen, deren zeitlicher Rahmen vom Mittelalter bis in die Nachkriegsgeschichte reicht: mittelalterliche Fernhändler (Köln, Worms, Mainz und Frankfurt 1350-1550), frühneuzeitliche Handelsherren (Lippstadt, Minden, Hannover, Celle 1650-1800), die Abwanderung aus Celle in die Metropolen Berlin und Frankfurt seit der Aufklärung (18. Jhdt.) und die Verdienste der Familie um die jüdische Emanzipation als Advokaten, Mäzene und Förderer von Wissenschaft und Kultur. Ein weiterer Teil nimmt die Chronik der Industriepioniere Isaac Elias Reiss und David Löb Cassel, alias Leopold Cassella (Farbenfabrik, „Pharma-Gans“) und zeigt den Weg von Ludwig Wilhelm Gans zur Erhebung in den Adelsstand („Verdienstadel“) durch Kaiser Wilhelm II. (11.03.1912) auf. Zur „Gründergeneration“ zählen die Großindustriellen und Pferdesport-Mäzene bis 1938 (Gestüt Waldfried), die Gebrüder Arthur von Weinberg (1860-1943) – hier kommen die Verwandtschaftsbeziehungen zu Rudolf und Alexandra von Spreti (Gut Pähl/ Obb.) ins Spiel - und Carl von Weinberg (1861-1943). Auf Druck der NS-Regierung teilte die Geschäftsleitung des Weltkonzerns I.G. Farben (Fusion 1925/26) die Trennung von ihren Verwaltungsräten Arthur und Carlo von Weinberg mit, die beiden Brüder werden enteignet, die Enteignungserlöse für den Ausbau der Leuna-Werke (Sachsen-Anhalt) verwendet. Nüchtern dokumentiert die Familienchronik, dass Arthur von Weinberg am 06.06.1942 von der Gestapo mit dem Münchner Transport Nr. II/3 ins als „Prominentenhäftling A“ (Leistungsträger) KZ Theresienstadt deportiert wurde. Hatte 1938 die Auflistung der Verdienste Arthur von Weinbergs die Enteignung nicht verhindern können, so fruchteten in dieser Situation auch die Appelle der zur NSDAP übergetretenen I.G.-Farben-Direktoren, darunter Carl Krauch (1887-1968) an SS-OGrFü Karl Wolff nicht, die Gestapo-Verfügung ins KZ zurückzunehmen (02.06.1942): 83-jährig starb Arthur von Weinberg an den Folgen eines internistischen Eingriffs im sog. „Musterlager“ KZ Theresienstadt (1943). Seine Asche wurde aus der Urne Nr. 14104 in einer Massenaktion in die Ohre geschüttet. Bruder Carlo von Weinberg starb kurz darauf im Exil in Rom. Carlos Tochter beging in London Selbstmord (1943). Für die „Generation nach den Gründern“ steht zuerst Paul Gans-Fabrice (1866-1915), der Automobil- und Luftfahrtpionier, der 1908 versuchte, die erste internationale Luftfahrt-Ausstellung auf der Münchner Theresienwiese zu etablieren, ohne Erfolg. Mit Unterstützung von Leo Gans fand diese dann in Frankfurt statt. Angela von Gans nennt als weiteren Automobilpionier ihren Vater Josef Paul von Gans („Jozsi“, 1897-1963), der nach dem 1. Weltkrieg zunächst die „komische Firma“ SNAG & Co (Wortverdrehung von „Gans“) gründete, was ihm eine Drohung mit Enterbung durch Fritz von Gans einbrachte. Für die I.G. Farben wurde er nach den Inflationswirren 1923 erst 1927-1938 in Frankfurt, Berlin und Wien tätig, von wo aus er vor dem Plebiszit für den „Anschluss“ Österreichs ins Exil nach Australien ging. Er wurde als Ausländer ab 1942 interniert (US-Stützpunkt Tocumwal) und erhielt am 20.10.1944 zusammen mit beiden Söhnen die australische Staatsbürgerschaft. Nur so konnte er auch nach 1945 Geschäftsbeziehungen zu den I.G.-Farben-Nachfolgern anknüpfen. Solange eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland (Nürnberger Prozesse, 1946/47) unmöglich schien, galt sein Interesse den I.G.Nachfolgewerken in Australien und Indien (Direktor bei Capco Ltd., Madras, 1952). Wie intensiv Josef Paul von Gans seine Rückkehr nach Deutschland vorbereitete, mag an der Tatsache abzulesen sein, dass er seine Kinder auf Schulen in der deutschsprachigen Heimat schickte (Internatsschule Steinmühle, Cappel/Lahn bzw. Wien und Marburg). Die berufliche Rückkehr nach Frankfurt sollte sich für Josef Paul von Gans schwieriger gestalten als erwartet: die Enttäuschung über die Verhältnisse, die er in Frankfurt antraf, machten ihn menschenscheu. Als Auslandsdeutscher „bekam (er) seinen Fuß nicht auf den Boden“, an eine Rückkehr des „Übervaters“ in die alte Firma (Cassella) war nicht zu denken. Sein Antrag auf Entschädigung und Freigabe von Geldern durch die I.G. Farbenindustrie-in-Abwicklung (1955) wurde negativ beschieden. Ein Folgeantrag sollte einmalig die Summe von 3.500 EURO erbringen. Ein Betrag, mit dem „Jozsi“ die Umzugskisten aus Indien nach Frankfurt transportieren lassen konnte. Schließlich fand er wirksame Unterstützung durch Schwester und Schwager: für deren brasilianische Firma „Panambra“ sollte er in Düsseldorf ein Büro in Deutschland eröffnen. „Das über die Jahrhunderte bewährte jüdische Netz“ fing Josef Paul von Gans auf, der seinen Kindern vor seinem Tod am 09.01.1963 ins Manuskript schrieb: „Geld macht nicht glücklich, sagt man. Nun, da muß ich ein Wort dazustellen. Viel Geld macht nicht glücklich. Man muß nur genug zum Leben haben.“ Angela von Gans gibt die Lebensstärke ihres Vaters, seine Geradlinigkeit, seinen Sinn für Gerechtigkeit, sein Gottvertrauen und seinen Durchhaltewillen mit dieser Familienchronik an ihre eigene Familie, aber auch an Deutschland weiter: es war die Menschlichkeit und das Verständnis jüdischer Menschen für andere, die selbst nach der Vernichtung ihrer Persönlichkeit, „nie ein Wort des Hasses“ über ihre Lippen kommen ließen. Nicht zuletzt aufgrund des Studiums dieser Familienchronik kann „Wissen zum Gewissen“ werden, denn, so das Schlusswort der Autorin – „Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft!“ Die Familienchronik der Familie Gans (1350-19963) verdient einen festen Platz in öffentlichen und Fachbibliotheken, in den Seminaren zur Ausbildung von Geschichtslehrern ebenso wie in Schülerlesebüchereien. Sie gibt verlässliches Zeugnis vom Auf und Ab der deutsch-jüdischen Geschichte, die mehr bietet als die NS-Tragödie und ihre Nachwirkungen auch für eine Familie vom Range derer „von Gans“.

Didaktische Hinweise

Die Lektüre thematisiert unter anderem folgende facherübergreifenden Bildungs- und Erziehungsziele: Kulturelle und interkulturelle Bildung.

Gattung

  • Sachbücher

Sachbuchkategorie

  • Biografien, Autobiografien, Porträts
  • Geschichte, Archäologie

Eignung

für die Schulbibliothek empfohlen

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Geschichte

Erscheinungsjahr

2006

ISBN

9783897354861

Umfang

464 Seiten

Medien

  • Buch