Freya Klier: Michael Gartenschläger: Kampf gegen Mauer und Stacheldraht
Besprechung
Die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur hat aus Anlass des 48. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer am 13.08.2009 zu einer Buchpremiere eingeladen. Dabei wird Freya Klier ihre aktuelle Biographie über Michael Gartenschläger (*1944, Strausberg) vorstellen: ein Leben als Kampf gegen Mauer und Stacheldraht. 1961 war der 17-jährige Gartenschläger als Rock’n Roll-Fan und Begründer eines Ted-Herold-Fanclubs ins Visier der DDR-Staatssicherheit geraten. Am 19. August wurde er wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze sowie der Diversion“ zu lebenslanger Haft verurteilt und in Torgau und Brandenburg-Görden inhaftiert. 1971 kaufte ihn die Bundesrepblik nach mehreren Ausbruchsversuchen frei. Von Hamburg-Bergedorf aus betätigte er sich mit seinem roten Opel Rekord, Kennzeichen HH-Y-3928, mehr als dreißig Mal als Fluchthelfer („Schleuser“). Sein Motiv: „Totalitären Systemen muss man aktiv entgegentreten!“ Er riskierte 1972/73 dabei viel, wurde verhaftet und entkam, handelte sich auch den Vorwurf ein, ein politischer Hasardeur und Abenteurer zu sein. Ob er mit der Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO und dem „Helsinki-Prozess“ eine Lockerung der Lebensbedingungen in der DDR verband? Freya Klier schildert Gartenschlägers Leben einfühlsam, eine jugendliche Leserschaft im Blick: ihr geht es darum, verständlich zu machen, wie junge DDR-Bürger auf die Repressalien der DDR-Diktatur reagiert haben und wo sie an schier unüberwindbare Grenzen gestoßen sind. Michael Gartenschlägers Familiengeschichte, seine Beziehung zu Birgit Müller und deren „ausreisewilliger Familie“. Es ist die Zeit, in der „nach Belieben aus der DDR ausreisen darf, wer den Staat Geld kostet: Rentner, Körperbehinderte, geistig Behinderte, schwer Kranke ...“. Wer als Arbeitskraft gebraucht wurde, musste in der DDR ausharren. Exemplarisch greift Freya Klier das Schicksal des Thüringers Bernhard Fey auf, der als 16-jähriger Berufsschüler mit sechzehn Mitschülern versucht hatte, nach Hessen zu fliehen – und wegen des mitgeführten Fahrtenmessers in einem Schauprozess verurteilt wurde. Heiligabend 1975 scheiterte der zweite Fluchtversuch an den Selbstschussautomaten („SM 70“) am Grenzzaun bei Vacha: sein Bein wurde von einer Splittermine zerfetzt. Michael Gartenschläger kennt den Fall von Hans-Friedrich Franck, der an den Folgen der SM 70 starb, nachdem er sich schwerverletzt noch auf westdeutsches Gebiet hatte retten können. Freya Klier nennt nüchterne Zahlen: 1976 gelingt etwa 600 Menschen die Flucht aus der DDR, etwa 800 scheitern an der „modernen Grenze“, die seit 1968 pioniertechnisch perfektioniert worden war – 1974-1979 standen 4 956 Fluchtversuchen 3 984 Festnahmen „vor dem Erreichen des ersten Signalzauns“ gegenüber. Als DDR-Außenminister Fischer die Existenz der Dum-Dum-Geschosse am Grenzzaun leugnet, beschließt Gartenschläger, der Weltöffentlichkeit die Beweise zu liefern: zusammen mit Lothar Lienicke montiert er zwei scharfe SM 70-Trichtergeschosskörper ab und wird beim dritten Versuch des Abbaus eines Todesautomaten von einem Stasi-Spezialkommando in der Nacht zum 01.05.1976 auf westlicher Seite bei Hagenow, Grenzsäule 231, erschossen – Michael Gartenschläger, Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe waren in eine Falle des MfS gelaufen. Die von Kugeln durchsiebte Leiche wird auf DDR-Gebiet verschleppt, in die Gerichtsmedizin nach Schwerin abtransportiert und „als unbekannte Wasserleiche“ unter Täuschung der Angehörigen an einem bis 1991 unbekannten Ort „begraben“. An den Gesamtkomplex dieses Staatsverbrechens der DDR erinnern seit 1976 ein Gedenkkreuz, das Protokoll der Staatssicherheit, Lothar Lienickes Bericht auf dem „Sacharow-Hearing“ in Kopenhagen (1977), die Berichterstattung freier Medien seit dem 02.05.1976, Autoren wie Andreas Frost und Romane Grafe über die juristische Aufarbeitung der „Liquidierung des Provokateurs“ durch eine vierköpfige Stasi-Spezialeinheit in den Jahren 1999/2003, die mit Freispruch enden sollte – für den Kommandoführer wegen Verjährung – und die vorliegende, packend erzählte Darstellung von Freya Klier, die sich vorzüglich aus der Perspektive einer Zeitzeugin in den Geschichtsunterricht als fundierter Beitrag gegen die verharmlosende Ostalgie einbringen lässt. Fächerübergreifende Ziele: Politische Bildung
Didaktische Hinweise
Die Dokumentation wird abgerundet durch Dokumentationen aus Hörfunk (SWR/SR, 2003) und Fernsehen (RBB, 2004). So ergibt sich ein sehr realistisches Bild, das altersangemessen für die 15-20- Jährigen erklären hilft, warum mit Fug und Recht von der DDR-/SED-Diktatur gesprochen werden kann – von Freya Klier Seite für Seite nachgewiesen: erdrückende Belege, warum die DDR keine Alternative zu keinem Zeitpunkt unter den Wertmaßstäben der Grund- und Menschenrechte für ein Modell Deutschland war. Der Blick auf die Umschlaginnenseiten bietet eine Faktenliste besonderer Art – den Auszug aus einer Opferliste der Toten „nr. 46 – 196“ (1963 – 1982) an der innerdeutschen Grenze. Bezugsadresse für Klassensätze: Bürgerbüro Berlin e. V., Bernauer Straße 111, 13355 Berlin, Mail: buergerbuero-berlin@gmx.de. Preis: 9,00 € zzgl. Versand.
Gattung
- Sachbücher
Sachbuchkategorie
- Biografien, Autobiografien, Porträts
Eignung
für die Schulbibliothek empfohlenAltersempfehlung
Jgst. 10 bis 13Fächer
- Geschichte
- Sozialkunde/Politik und Gesellschaft
- Zusätzliche Fächer (Fachunterricht)
Erscheinungsjahr
2009ISBN
9783000279997Umfang
160 SeitenMedien
- Buch