Michel Bergmann: Alles was war
Besprechung
Michel Bergmanns kurze, aber eindringliche Erzählung „Alles was war“ schildert eine jüdische Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Der Text ist aus der Perspektive eines alten Mannes geschrieben, in der unschwer der Autor selbst zu erkennen ist, der wiederum das Leben eines jüdischen Jungen beobachtet, der in den 1950er-Jahren in Deutschland aufwächst. Der vermeintliche Neuanfang beginnt für die Familie des namenlos bleibenden Jungen im ausgebombten jüdischen Krankenhaus in Frankfurt, das als gemeinschaftliche Notunterkunft dient. Es ist der Ort, an dem sich diejenigen sammeln, die im Krieg alles verloren haben, sich aber dennoch entschieden haben, Deutschland nicht zu verlassen. Hier hält man zusammen, organisiert sich, so gut es eben geht, und feiert sogar ein christlich-jüdisches Weihnachtsfest (Weihukka, S.71ff), das im Roman mit viel Humor beschrieben wird. Dennoch ist das Leben der Familie alles andere als unbeschwert: Der Vater - vom KZ schwer krank und traumatisiert - kann seinen Alltag kaum bewältigen. Die Entschädigungsprozesse, die von ehemaligen NS-Juristen geführt werden, lassen den ohnehin von der Vergangenheit getriebenen Vater erneut zum Opfer werden. Oft sitzt er einfach nur da - und weint. Er wird die Bar-Mizwa seines Sohnes nicht mehr erleben. Auch die Mutter und die wenigen Überlebenden aus dem Verwandtenkreis versinken immer wieder in der Erinnerung. Der Wiederaufbau und das einsetzende Wirtschaftswunder führen zwar schließlich dazu, dass die Familie in eine neue Wohnung umziehen kann. Dies bedeutet aber nicht, dass die Vergangenheit abgeschlossen und das Leiden beendet ist. Immer wieder wird der Junge von den Eltern seiner Kassenkameraden gefragt, warum seine Familie denn nicht aus Nazi-Deutschland emigriert sei. Aber wohin hätte die Familie gehen sollen? Nach Israel? Der Junge, dessen Freundeskreis vor allem aus jüdischen Kindern besteht, wird durch Begegnungen mit der nichtjüdischen Welt immer wieder verunsichert, und er macht die schmerzliche Erfahrung, dass Jude sein, fremd sein heißt, vor allem in Deutschland - eine Erfahrung, die sich bis in unsere Gegenwart nachweisen lässt, wie der Autor immer wieder durch kurze Einsprengsel im Text verdeutlicht. Die Mutter sieht den Sohn in der Tradition der verstorbenen Verwandten als Arzt. Dieser kann jedoch der Anforderung und den „Erblasten“ (S.49ff) der Toten nicht gerecht werden. Das Gymnasium, in dem er der einzige Jude ist, schafft er gerade so, sitzt seine Zeit mehr oder weniger ab, macht seine ersten Erfahrungen mit Frauen, bis er schließlich seinen Weg in den Journalismus findet. Dort wird er als Volontär für die Frankfurter Rundschau die Auschwitzprozesse begleiten. Er wird nicht nur Zeuge, wie mit jüdischen Opfern umgegangen wird, sondern er lernt auch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer kennen, der den Mut hat, deutsche Täter anzuklagen.
Didaktische Hinweise
Der Roman zeichnet sich durch eine nüchterne und lapidare Sprache aus und ist einfach zu lesen. „Alles was war“ eignet sich sehr gut als Klassenlektüre in der Oberstufe. Während die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des NS-Regimes im Deutschunterricht vor allem durch die Lektüre von Bernhard Schlinks „Der Vorleser“, Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“ oder Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ Eingang in den Unterricht gefunden hat, eröffnet Michel Bergmann mit seiner Erzählung eine neue, in der deutschen Literatur noch zu wenig beachtete Perspektive – nämlich die jüdische. Die Frage, inwieweit jüdisch sein das eigene Leben „formt und verformt“ (S. 44) ist demnach nicht nur eine zentrale Frage des Romans, sondern sie reicht weit über das Leben des Jungen hinaus bis in die Gegenwart. Die Lektüre im Unterricht kann also nicht nur dazu genutzt werden, den Schülerinnen und Schülern die historischen Zusammenhänge aus jüdischer Perspektive zu vermitteln, sondern sie kann auch als Impuls dienen, sich mit jüdischem Leben im heutigen Deutschland auseinanderzusetzen. Über die Auschwitz-Prozesse und die Rolle des Staatsanwals Fritz Bauer informiert eindringlich der Film Im Labyrinth des Schweigens (2014) über das jüdische Leben heute die jüdische Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. Ein Interview mit Ellen Presser, der Leiterin des jüdischen Kulturzentrums München, über ihre Kindheit in Deutschland ist abzurufen auf www.br.de/fernsehen/ard-alpha.
Gattung
- Kurzprosa, Erzählungen, Textsammlungen, Tagebücher
Eignung
sehr gut als Klassenlektüre geeignetAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Deutsch
- Geschichte
Erscheinungsjahr
2014ISBN
9783423144575Umfang
128 SeitenMedien
- Buch