Sasa Stanisic: Herkunft
Besprechung
„Herkunft" von Sasa Stanisic ist nicht umsonst 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Der Text, eine Mischung aus Roman, Autobiographie und Zeitgeschichte, erzählt von der Flucht des vierzehnjährigen Erzählers aus Visegrád, Jugoslawien, nach Deutschland, von der Ankunft im fremden Land, in dem seine gut ausgebildeten Eltern menschenunwürdige Arbeiten annehmen müssen, bis ihnen die Aufenthaltserlaubnis entzogen wird und sie nach Amerika gehen. In Deutschland bleiben der Erzähler und seine Großmutter zurück, die zentrale Figur des autobiographischen Erzählens. Erzählanlass ist die Aufforderung der Ausländerbehörde, einen Lebenslauf zu schreiben. Der so entstandene Text besteht aus nichts anderem als den Digressionen, zu denen sich Stanisic herausgefordert sieht, als er von außen gedrängt wird, sein Leben zusammenzufassen.
Gerahmt wird die Geschichte durch die Figur der Großmutter Kristina. Die Anfangssequenz zeigt die Siebenundachtzigjährige, wie sie auf die Straße zu einem Mädchen läuft, das nur sie sieht. Es ist sie selbst als Elfjährige. Die Demenz ist nicht aufzuhalten, sie verstärkt sich im Buch immer weiter. Das Ende der Erzählung bildet ein kurzer Bericht von der Beerdigung der Großmutter. Trauerarbeit ist ein wesentliches Thema des Buches: Trauer über den Zerfall der einstigen Heimat Jugoslawien, Trauer um die Großmutter, Trauer um die Schwierigkeiten des Lebens in dem fremden Deutschland, das für den Erzähler dann doch zu einer Art Heimat wird, Trauer über den Zerfall der Familie, die in Erinnerungen vergegenwärtigt wird: Ein ganzes Dorf voller Stanisics im ehemaligen Jugoslawien, undenkbar, dass die Großmutter dort ins Altenheim käme wie in Deutschland, die Familie wacht über alles.
Die Besonderheit der Erzählung liegt in der Kombination der Trauerarbeit mit Humor und Ironie. Es ist der von den Lehrern unterstützte Sprachwitz, der Stanisic rettet. Nicht zuletzt sichert er ihm die ersehnte Aufenthaltsgenehmigung, ermöglicht ihm das Studium der Slavistik, den Beginn der schriftstellerischen Arbeit und viele Reisen innerhalb Deutschlands und ins Ausland.
„Herkunft" ist auch eine Coming of Age-Geschichte, in der Freundschaft und die erste Liebe eine große Rolle spielen: Mit seinen Freunden trifft sich der junge Erzähler an einer Aral-Tankstelle. Klassenkameraden nach Hause einzuladen ist ihm aufgrund der bescheidenen Wohnverhältnisse unmöglich, die erste Freundin erobert er mit seinem jungenhaften Charme, nicht zuletzt entdeckt er die deutsche Literatur ausgerechnet in dem romantischen Dichter Eichendorff. Dass er einen dreijährigen Sohn hat, erfährt der Leser eher beiläufig, die Hintergründe bleiben offen.
„Herkunft" bleibt so das Leitthema des Romans, aber auf eine unaufdringliche Art und Weise, fern jedes „Zugehörigkeitskitsches", wie es der Erzähler nennt: Er kennt mehrere Herkünfte, ist in mehreren Sprachen zuhause, daher aber auch immer ein Fremder, selbst innerhalb der eigenen Familie, die seine schriftstellerischen Ambitionen nicht teilen kann. Stanisic erzählt eine andere Migrationsgeschichte, einen Schelmenroman, in dem hinter jeder Idylle eine Traurigkeit wohnt, hinter jeder Traurigkeit aber auch ein Aufbruch wartet. Kein Wunder also, dass der witzige Sprachartist Stanisic den Buchpreis bekommen hat, kein Wunder auch, dass er seine Preisrede zu einer scharfen Kritik an der Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke genutzt hat: Bei aller Ironie ist „Herkunft" auch ein politisches Buch über den Zerfall Jugoslawiens und die Folgen für Europa.
Didaktische Hinweise
Die Autobiographie ist in kleine Kapitel unterteilt, die mit einer oft witzigen Überschrift versehen sind – „Herkunft" eignet sich somit sowohl als Ganzschrift wie auch zum Lesen von Ausschnitten. Schon das Thema des Coming of Age spricht jugendliche Leser an. Es wird hier nicht romantisierend dargestellt, sondern als Ankämpfen gegen das Abgehängtsein eines in Heidelberg aufwachsenden Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien, einem Land, das es nicht mehr gibt. Für viele Schülerinnen und Schüler bietet die Auseinandersetzung mit Migration, Fremdheitserfahrungen, Heimat und Nationalgefühl ein wichtiges und mit persönlichen Erfahrungen verbundenes Thema, das im Kontext der Lektüre aufgegriffen werden kann. Das Leben in und zwischen verschiedenen Kulturen ist für Stanisic bei der Entwicklung der eigenen Identität zentral und erlaubt es, diese für viele junge Menschen wichtige Erfahrung anzusprechen.
Auch eine Reflexion auf den Umgang mit Sprache und mit Mehrsprachigkeit bietet sich in diesem Zusammenhang an, wird doch im Buch thematisiert, dass Stanisic nicht gleich auf Deutsch schreibt, dann aber diese Sprache als Literatursprache für sich entdeckt.
Des Weiteren kann die Bedeutung der Familie und deren Stellenwert in unterschiedlichen Kulturen im Kontext der Autobiographie untersucht werden sowie der Umgang mit Krankheit und Tod, beides wird insbesondere im Hinblick auf die dement werdende Großmutter angesprochen, die für den Autor und im Buch eine wichtige Rolle innehat.
Aufgrund seines Themas und des damit verbundenen Sprachwitzes können ausgehend von der Lektüre von Ausschnitten im Unterricht auch kreative Schreibaufträge gestellt werden. So können die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, über ihre Herkunft zu reflektieren und eine Geschichte über ihre Herkunft zu schreiben. Die Geschichten können dann in einer Klassenausstellung präsentiert oder zu einem Klassenbuch gebunden werden.
Für die Schule ist „Herkunft" auf ideale Weise geeignet, bietet es doch vielfältige didaktische Anschlüsse. Auch sind bereits in verschiedenen Verlagen hilfreiche Unterrichtsmaterialien erhältlich.
Gattung
- Romane
Zielgruppe
ab 15 JahrenEignung
sehr gut als Klassenlektüre geeignet und zum VorlesenAltersempfehlung
Jgst. 9 bis 13Fächer
- Deutsch
- DaZ - Deutsch als Zweitsprache
- Ethik/Religionslehre (Evang. Religionslehre
- Geschichte
- Interkulturelle Erziehung
FÜZ
- Interkulturelle Bildung
- Kulturelle Bildung
- Politische Bildung
- Soziales Lernen
- Sprachliche Bildung
Erscheinungsjahr
2019ISBN
9783442719709Umfang
365 SeitenMedien
- Buch