Bernardo Zannoni: Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten
Besprechung
Derjenige, der hier seinen Lebensbericht abgibt, ist der Steinmarder Archy. Mit dem ersten Satz „Mein Vater starb, weil er ein Räuber war“ ist der Grundton dieser Erzählung gesetzt: Archy wächst in der gnadenlosen Welt der Tiere auf, in der das Recht des Stärkeren gilt und jeder Tag einen neuen Überlebenskampf darstellt. Gleichzeitig schwingt aber auch ein moralischer Vorwurf mit, der eigentlich den vernunftbegabten Menschen vorbehalten ist. Ist Archy nun ein Mensch oder ein Tier? Der erzählende Marder berichtet von seinen Geschwistern und seiner Mutter, die ihre Kinder in einem von ihr gesteuerten System der Bestrafung großzieht. Der schwächste Bruder wird zum Beispiel nicht großgezogen; er lebt „im Schatten unserer Existenz“, wie Archy es beschreibt. Der stärkste Bruder „war mehr Tier als ich“, was soviel heißt, dass er mit der Mutter auf die Jagd gehen darf und eine privilegierte Rolle aufgrund seiner Grausamkeit, seiner animalischen Triebe einnimmt. Archy selbst lotet seine Rolle aus und fühlt sich auch ganz Tier, wenn er seinem Sexualtrieb hemmungslos nachgibt und ihn mit seiner Schwester auslebt. Andererseits verletzt er sich bei seinem Jagdversuch, bei dem er der Mutter imponieren wollte, und bleibt sein Leben lang „Hinkefuß“. Als solcher der Mutter nutzlos, wird er für eineinhalb Hühner an den Pfandleiher Fedor verkauft. In diesem neuen Kapitel seines Lebens begegnet er einem „ausgefuchsten“ Herrn, der absolute Unterwerfung fordert, seinen Diener durch Bestrafung diszipliert und abhärtet. Im Gegensatz zu seiner Mutter belohnt er Archy jedoch für seine treuen Dienste und lässt ihn teilhaben an der wichtigsten Erfahrung, die er in seinem Leben gemacht hat: Er erzählt ihm von Gott. Fedor selbst berichtet sukzessive davon, wie er Gottes Wort begegnet ist: Er fand die Bibel bei einem toten Menschen und lernte selbst lesen und schreiben. Der Fuchs bringt Archy alles bei, was er verstanden hat; zentral ist aber die Botschaft von der Unsterblichkeit Gottes und der Sterblichkeit der Lebewesen. Für Archy verändert sich damit alles: „Mein Verhältnis zum Leben war hinter dem Bewusstsein vom Ende aller Dinge verschwunden.“ Mit diesem Zeitpunkt wird ihm klar, dass er nicht weiter als Tier lebt, sondern wie ein transzendenzfähiges Wesen. Fedor selbst ist davon überzeugt, dass Gott ihn zu einem Menschen verwandelt hat. Für Archy selbst gilt das nicht sofort; er gerät immer wieder in Situationen, in denen sein tierischer Instinkt ihn übermannt und stärker ist. Je weiter sein Leben aber voranschreitet, desto reflektierter wird er: Er vermag sogar selbst seine eigene Geschichte zu Papier zu bringen. Archy begleitet Fedor in seinen letzten Lebenstagen und erfüllt ihm seinen Wunsch, ihn wie einen Menschen zu begraben. Der Marder begibt sich auf Sinn- und Partnersuche und erzählt von seinem Leben bis an dessen Ende. Deutlich wird, dass er die Erwartungen, die man an ein vernunftbegabtes Wesen hat, nicht erfüllen konnte: „Mir schaudert bei dem Gedanken, grausamer gewesen zu sein als Gott.“
Didaktische Hinweise
Der Roman eignet sich bestimmt als Beispiel für italienische Gegenwartsliteratur, hat doch der Autor den renommierten Literaturpreis Campiello 2022 dafür erhalten. Auch ein Vergleich zu anderen Erzählungen, in denen Tiere wie Menschen agieren, wie z.B. Animal Farm, ist für den Unterricht interessant. Im Mittelpunkt der unterrichtlichen Deutung steht zweifellos das in diesem Roman von Archy und Fedor verhandelte Gottesbild.
Nicht unerwähnt darf bei der Beschäftigung mit diesem Buch der Antisemitismus-Vorwurf bleiben, der im Nachgang der Veröffentlichung und der Übersetzung laut wurde. Der Rowolth-Verlag ließ in Abstimmung mit dem Autor einige entscheidende Veränderungen bei der Übersetzung vornehmen: So heißt der Fuchs im Original „Solomo" und wird nicht als Pfandleiher, sondern als „Wucherer" bezeichnet. Zusammen mit dem Schwein David und dem Hund Giosue, der die Schulden gnadenlos eintreibt, ergibt sich ein erzählerisches Tableau, das voller antisemitischer Stereotypen ist. Zwar hat der Rowolth-Verlag diese und andere Änderungen (aus Sabbat wird Samstag usw.) erwirkt, doch bleibt die Frage, ob sich der Autor bewusst antisemitischer Stereotypen bedient hat. Zumindest in einem Nachwort zur Übersetzung hätte man auf diese Veränderungen eingehen müssen. Die Auseinandersetzung mit diesen Vorwürfen kann im unterrichtlichen Rahmen sehr gewinnbringend sein, muss aber sensibel geführt werden.
Gattung
- Romane
Eignung
für die Schulbibliothek empfohlenAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Ethik/Religionslehre (Evang. Religionslehre
- Deutsch
- Italienisch
FÜZ
- Soziales Lernen
- Werteerziehung
Erscheinungsjahr
2023ISBN
9783498003326Umfang
252 SeitenMedien
- Buch
- E-Book
- Hörbuch