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Marieluise Fleißer: Pioniere in Ingolstadt - aus: Ingolstädter Stücke

Besprechung

Ein immer noch aktuelles Drama über Ausbeutung und die Dominanz von Männern

 

Bereits Fleißers Drama „Fegefeuer in Ingolstadt“ hat 1926 bürgerliche Kreise empört, allerdings wird erst ihr Theaterstück „Pioniere in Ingolstadt“ unter Brechts Einfluss 1929 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm zu einem furiosen Theaterskandal. Die bürgerliche und vor allem die rechtsradikale Presse schäumen vor Wut und beschimpfen die junge Autorin recht unflätig. Stein des Anstoßes ist vor allem eine Szene, in der recht offensichtlich Sex gezeigt wird. 

Allerdings ging es Marieluise Fleißer in ihrem Stück nicht vorrangig darum, sondern um die Doppelmoral des Bürgertums; so fordert der vermögende Geschäftsmann Benke seinen Sohn Fabian unverblümt dazu auf, seine sexuellen Triebe an dem Dienstmädchen Berta auszuleben, da dieses ohnehin im Haus sei und nichts koste. Auch das zweite große Thema der Fleißer wird hier deutlich: Ausbeutung und Armut; sie hindern Menschen daran, ihre Fähigkeiten und Talente zu entfalten, unabhängig zu werden und ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Für Frauen ist die Situation besonders desaströs, denn sie werden psychisch und sexuell von den Männern unterdrückt, wie Berta, die sich zwar ihrem jungen Dienstherrn verweigern kann, sich aber in den skrupellosen und gefühlskalten Soldaten Karl verliebt, der nichts für sie empfindet und ihr dies auch nicht vorspielt. Als die Pioniere die Brücke in Ingolstadt gebaut haben, ziehen sie wieder ab und lassen die Mädchen, die sich mit ihnen eingelassen haben, gesellschaftlich geächtet zurück. Lediglich das ehemalige Dienstmädchen Alma erringt eine gewisse Freiheit und damit sexuelle und finanzielle Selbständigkeit, allerdings um den Preis der Prostitution.

Fleißers Drama zeigt die Hartherzigkeit und Beschränktheit der Kleinstadtbürger, die jede Abweichung von ihren normierten Vorstellungen mit Niedertracht und Grausamkeit verfolgen. Die dumpfe, bigotte Atmosphäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnürt dem Leser, stärker wohl der Leserin, noch heute fast die Luft ab. 

Didaktische Hinweise

Man sollte bei der Besprechung des Stücks im Unterricht unbedingt auch den gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts thematisieren. In der Oberstufe kann man dabei fächerübergreifend mit den Lehrkräften für Geschichte und PuG zusammenarbeiten. Darüber hinaus geben auch Fleißers Leben und die Rezeption ihres Werks Gelegenheit für einen Längsschnitt von der Jahrhundertwende bis heute; interessant ist dabei Fleißers Biographie, denn sie erlebte wie ihre Figuren Armut und Ausgrenzung sowie die Abhängigkeit von Männern. Dass ihre Dramen Ende der 60er Jahre von ihren literarischen „Enkeln“, Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder, wiederentdeckt und inszeniert wurden und die Autorin am Ende ihres Lebens noch einmal Anerkennung erlebte, zeigt außerdem, wie abhängig literarischer Erfolg vom jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs und seinen Vorlieben ist. Von Rainer Werner Fassbinder gibt es übrigens auch eine Verfilmung der „Pioniere in Ingolstadt“ aus dem Jahr 1971, die sich im Unterricht einsetzen ließe. In diesem Zusammenhang könnte man auch eine Rezension aus dem „Spiegel“ zu einer Wiederaufnahme des Stücks 1970 im Münchner Residenztheater verwenden, bei der auch Marieluise Fleißer anwesend war. Beides zeigt, wie beliebt Fleißers Stücke in dieser Zeit waren. Erwähnt werden sollte auch, dass es seit 1981 einen von der Stadt Ingolstadt gestifteten Literaturpreis gibt, der nach der Autorin benannt ist.

Fleißers Drama ist zurzeit nur zusammen mit dem Stück „Fegefeuer in Ingolstadt“ erhältlich. Zwar gibt es eine Fülle von Sekundärliteratur zu Fleißers Theaterstücken und Erzählungen, aber kaum Unterrichtsmaterial. Besonders hilfreich ist deshalb das Marieluise-Fleißer-Haus in Ingolstadt, das einen Spaziergang durch Ingolstadt auf den Spuren der Autorin anbietet und eine Fortbildung für Lehrkräfte, bei der das Drama „Pioniere in Ingolstadt“ im Mittelpunkt steht. Auf dem „Literaturportal Bayern“ lässt sich der Spaziergang auch online nachvollziehen. Dabei werden die einzelnen Stationen in Text und Bild ausführlich vorgestellt, sodass man sie arbeitsteilig erforschen lassen könnte. Ferner lässt sich das Marieluise-Fleißer-Haus auf der Website auch virtuell erkunden, außerdem steht dort ein etwa halbstündiger Film zur Verfügung, der sich mit Leben und Werk der Autorin beschäftigt. Darüber hinaus findet man Informationen zu Fleißers Biographie und ihrer Familie und verschiedene Audiobeiträge. In diesem Zusammenhang empfehlenswert ist auch eine sehr kurze (ca. 4 Minuten) Einführung in Fleißers Leben und Werk vom RBB, mit der die Unterrichtssequenz eröffnet werden könnte. 

https://zentrumstadtgeschichte.ingolstadt.de/Marieluise-Flei%C3%9Fer-Haus/

https://www.literaturportal-bayern.de/ortelexikon?task=lpbplace.default&id=342

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/themen/literatur/die-ueberlesenen/marieluise-fleisser.html

https://www.spiegel.de/kultur/einen-fetzen-muss-man-aus-euch-machen-a-af48ba1e-0002-0001-0000-000045439958

http://fleisser.net/marieluise-fleisser-preis/

Gattung

  • Dramen

Eignung

als Klassenlektüre geeignet

Altersempfehlung

Jgst. 12 bis 13

Fächer

  • Deutsch
  • Geschichte
  • Sozialkunde/Politik und Gesellschaft

FÜZ

  • Kulturelle Bildung
  • Politische Bildung
  • Sprachliche Bildung
  • Werteerziehung

Erscheinungsjahr

1977

ISBN

9783518369036

Umfang

144 Seiten

Medien

  • Buch