Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Besprechung
Giovannas Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag: „Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich.“ Welches 13-jährige Mädchen am Beginn der Pubertät würde das nicht vollkommen aus dem Konzept bringen? Die junge Neapolitanerin hatte den akademisch gebildeten Vater, erfolgreicher Lehrer an einem Gymnasium, sehr geliebt und konnte deshalb umso weniger verstehen, warum er sie mit dem schwarzen Schaf der Familie verglich: „Sie kommt nun ganz nach Vittoria.“ Sie sollte also nach der von der Familie gemiedenen Tante, dem Monster, kommen? Die erschütterte Giovanna macht sich auf Spurensuche nach Vittoria und sich selbst. Sie begegnet ihrer Tante, lernt sie und ihre Welt im unteren Teil von Neapel kennen. Sie scheint das Gegenteil ihres gebildeten Bruders zu sein, ist aufbrausend, ordinär und überraschenderweise hübsch. Immer mehr lernt sie, ihre Eltern zu belügen, um sich mit Vittoria und ihrem Clan zu treffen. In ihrer Begleitung nimmt sie sich als eine andere Giovanna wahr. Auf ihre wenig feine Art befeuert sie den Abnabelungsprozess ihrer Nichte von ihren Eltern, indem sie sie an sich bindet. Giovanna wird von ihr gleichzeitig abgestoßen und angezogen. So gerät sie immer mehr in eine Zwischenwelt: „Ich war keine wirklich liebende Tochter und auch kein wirklich loyaler Spitzel“ für Vittoria, die möchte, dass Giovanna ihren Eltern nachspioniert. Tatsächlich muss sie erkennen, dass ihre umsichtigen und hyperkorrekten Eltern sich in Wirklichkeit seit Jahren untreu sind und muss erleben, wie deren Ehe in die Brüche geht. Giovanna versteht die Welt nicht mehr und verliert zunehmend die Orientierung: Aus der trivialen Tante wird eine kultivierte Frau, die kultivierten Eltern offenbaren sich dagegen als triviale Personen. Wem ist noch zu trauen? Giovanna verändert sich, provoziert durch ihr Äußeres, und fühlt ein „heftiges Verlangen nach Verkommenheit“. Zum Erwachsenwerden, da ist sie sich zusammen mit ihren Freundinnen sicher, gehört auch der Verlust der Jungfräulichkeit. Erste Erfahrungen mit den Jungs aus Neapel lassen sie verstört zurück. Ein echter Lichtblick ist der charismatische Roberto, Verlobter ihrer Freundin Giuliana. Der Kreis der Geschichte schließt sich fast in dem Moment, in dem er zu der 16-jährigen Protagonistin sagt: „Du bist sehr schön“. Auf dem Höhepunkt der Erzählung muss sich Giovanna entscheiden, so zu werden wie ihre Eltern und ihre Tante und Giuliana zu hintergehen und mit Roberto zu betrügen, oder auf eine andere Art erwachsen zu werden; nämlich so, wie „es keiner anderen vor uns je passiert war.“
Didaktische Hinweise
Die Geschichte ist im Unterricht als Coming-Out-Erzählung einsetzbar. Interessant ist die raffinierte Ferrante-typische Konstruktion, die es zu analysieren gilt. Denkbar ist die Erstellung von literarischen Charakteristika, z.B. von Giovanna, ihren Eltern und Vittoria. „So ungefähr war es“ verweist darauf, dass der Erzählinstanz womöglich nicht ganz zu trauen ist: Wo finden sich Indizien dafür? Auch die Dekonstruktion der unterschiedlichen Narrative über den Streit der Familien ist lohnenswert. Die ganze Geschichte lädt natürlich dazu ein, über den eigenen Eingang in die Welt des Erwachsenseins nachzudenken und unterschiedliche Modelle zu reflektieren.
Besonders motivierend ist die Auseinandersetzung mit der Netflix-Verfilmung (2022) unter der Regie von Edoardo de Angelis.
Gattung
- Romane
Eignung
für die Schulbibliothek empfohlenAltersempfehlung
Jgst. 10 bis 13Fächer
- Deutsch
- Familien- und Sexualerziehung
- Italienisch
FÜZ
- Familien- und Sexualerziehung
- Werteerziehung
Erscheinungsjahr
2020ISBN
9783518471685Umfang
415 SeitenMedien
- Buch
- E-Book
- Hörbuch