Marietta Moskin: Um ein Haar – Überleben im Dritten Reich
Besprechung
Rosemarie ist 12 Jahre alt und liebt ihre langen braunen Haare. Sie hat nämlich eine Ewigkeit warten müssen, bis ihre Haare lang genug für Zöpfe waren. Und eines Tages müssen sie ab – ihre geliebten Zöpfe! Rosemarie Brenner wohnt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in Amsterdam. Aus geschäftlichen Gründen sind Rosemaries Eltern lange vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Holland gezogen. Hier fühlt sie sich wohl, hat in Anneke eine beste Freundin gefunden und die neue Sprache schnell gelernt. Als dann Deutschland ohne Vorwarnung im Mai 1940 in die Niederlande einmarschiert, beginnt für sie und ihre Familie ein langer Leidensweg. Rosie wird sich klar darüber, was es bedeutet, Jüdin zu sein. Sie sieht es als eine Facette ihrer selbst, „wie man sie als Kind selbstverständlich lernt und hinnimmt“ (S. 19). Der Alltag der Familie ändert sich drastisch, Hamsterkäufe werden getätigt, vor Luftangriffen flüchten sie sich in den Keller, jeder Jude muss ein „J“ für Jude in seinem Ausweis haben und einen Davidstern auf seiner Kleidung tragen, Ausgangssperren treten in Kraf , ihr Vater verliert seinen Arbeitsplatz – ein Leben in einem besetzen Land. Nach einiger Zeit darf Rosemarie auch nicht mehr in die „richtige“ Schule, für jüdische Kinder muss eine Behelfsschule in einem Privathaus reichen. Dann müssen sie zu guter Letzt ihr Haus verlassen und kommen bei Frau Dubois unter, die in der holländischen Widerstandsbewegung tätig ist und sie vor Razzien warnt, wenn die Deutschen wahllos Leute festhalten, schikanieren und sie zum Teil auch nach Polen schicken. Aber irgendwann trifft es auch Rosies Familie: Sie werden abgeholt und ins Lager nach Westerbork an der deutschen Grenze gebracht. Ein Rucksack mit den nötigsten Habseligkeiten darf sie mitnehmen, ihre langen Haare nicht, weil „ein kurzer Bubikopf […] pflegeleichter sei“ (S. 80). Im Lager beginnt eine zweijährige quälende Wartezeit auf den jederzeit drohenden Weitertransport nach Polen. Für Rosemarie eine Achterbahn der Gefühle – zunächst versucht sie noch, sich an die neue Umgebung anzupassen, aber sie vermisst ihre alten Freunde und ihre Großmutter. Ihre Eltern erhalten sogenannte Funktionen im Lager wie „Barackenälteste“, sodass ein Aufschub des Weitertransports erwirkt wird, aber dennoch ist dieser Aufschub nicht amtlich. Rosemarie übernimmt Botendienste, schließt sich einer Gruppe von jungen Juden an, die ihr die Bedeutung des Zionismus nahebringen – nur kann sie die Erfahrungen, die sie an den „Transporttagen“ macht, nicht ausblenden, irgendwann stumpft sie ab. Doch eines Tages erhält die Familie Reisepässe für Südamerika. Sie kommen in ein weiteres Lager – Bergen-Belsen – und warten dort auf einen Austausch gegen Deutsche aus Lateinamerika. Das von der SS geführte Lager verlangt alles von der Familie ab, der ersehnte Austausch rückt in weite Ferne, doch dann ist es soweit: Über die Schweiz wird der Austausch organisiert, aber dann stellt sich heraus, dass es zu wenige Deutsche für den Austausch gibt und ihre letzte Hoffnung erlischt: Die Familie wird in ein weiteres Lager gebracht – Biberach – , wo das qualvolle Warten auf das Ende des Krieges mit der Befreiung durch die Franzosen kurz vor Kriegsende 1945 ein Ende hat. Staatenlos, aber überglücklich über ihre Freiheit, kann Rosemarie sogar wieder lächeln, denn ihre Haare sind inzwischen wieder ein wenig länger geworden.
Didaktische Hinweise
In einem Nachwort erklärt die Autorin Marietta Moskin auf sensible Weise, wie sie dazu kam, ihre eigene Geschichte in Gestalt der Figur Rosemarie zu erzählen. Ihr ging es dabei vor allem darum, den Leserinnen und Lesern zu vermitteln, dass ihre Figur trotz all der Grausamkeiten, die sie in den Lagern erfahren hat, „eine positive Einstellung zur menschlichen Natur und ihre Fähigkeit zum Anstand bewahren sollte“ (S. 280). Sie widmet dieses Buch all denjenigen, die von ihren Leiden nicht berichten können. Dies war 1972 und lange Zeit war das Buch nur in der englischen Version erhältlich. Bis dann 2002 eine Gruppe von Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrkräften aus Biberach es sich zur Aufgabe machte, diese Buch ins Deutsche zu übersetzen und Ralph Giordano um ein Vorwort baten, was dieser gerne übernahm. So ist uns ein wertvolles Zeugnis überliefert, was uns die Wahrheit jener Zeit durch die Augen von Rosemarie erlebbar macht.
In vier großen Abschnitten werden die Aufenthalte in den verschiedenen Lagern unterteilt. All dies erzählt Marietta Moskin ohne Pathos, sie findet eine kind- und jugendgerechte Sprache, die die Leserinnen und Leser mit auf Rosemarie Ebene nimmt und dabei vor allem in der Beschreibung der kleinen Gesten uns das abscheuliche Leben in den Lagern vor Augen führt. Der Aufbau des Romans und die unprätentiöse Erzählweise sind dann auch ein Anknüpfungspunkt für die Besprechung im Unterricht. Das Cover des cbt-Verlags kann ein erster Einstieg in die Thematik darstellen. Schülerinnen und Schüler können davon ausgehend die Art und Weise des Überlebens in den verschiedenen Lagern herausarbeiten, entweder in Gruppenarbeit oder mit Hilfe eines Lesetagebuchs. Im Unterrichtsgespräch können wichtige Stellen des Buches durch lautes Vorlesen hervorhoben werden, was auch eine Lenkungsmöglicheit für die Lehrkraft darstellt. Diskussionen vor, während oder nach der Lektüre können unter Zuhilfenahme des Vorworts von Ralph Giordano und des Nachwortes der Autorin die Entstehungsgeschichte eines solchen Zeitzeugenberichts in den Fokus nehmen, um den Anspruch zu untersuchen, inwiefern man aus der Geschichte lernen kann. Hierbei kann behutsam Bezug zur der Geschichte des Nationalsozialismus, der Altersstufe der Schülerinnen und Schüler entsprechend, genommen werden. Ein Verweis auf aktuelle gesellschaftliche Themen oder auch ein Vergleich mit Büchern ähnlicher Thematik bieten sich ebenfalls an (u.a. Das Tagebuch der Anne Frank. Und im Fenster der Himmel). Am Ende wäre es denkbar, die Geschichte von Rosemarie weiterzuerzählen bzw. weiterzuschreiben. Ein Glossar am Ende hilft bei der Einordnung von unbekannten Begriffen, sodass die Schülerinnen und Schüler hier auch eine Hilfestellung jenseits des Unterrichts finden. Der Roman eignet sich sehr gut als Klassenlektüre oder für Buchvorstellungen.
Gattung
- Romane
Eignung
sehr gut als Klassenlektüre geeignetAltersempfehlung
Jgst. 7 bis 9Fächer
- Deutsch
- Geschichte
FÜZ
- Interkulturelle Bildung
- Politische Bildung
- Soziales Lernen
- Werteerziehung
Erscheinungsjahr
2005ISBN
9783570302125Umfang
287 SeitenMedien
- Buch