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Ines Geipel: Umkämpfte Zone

Besprechung

Mein Bruder, der Osten und der Hass

Ines Geipel blickt am Rand des Bettes ihres Bruders Robby auf ihr Leben als Bruder und Schwester zurück. Der Besuch auf der Palliativstation macht deutlich, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Lebenszeit bleiben wird. Dieser biografische Ansatz zieht sich als eine Ebene durch das Buch. Sie macht das am Beispiel ihrer Familie konkret, was sie allgemein über den Osten als „umkämpfte Zone” schreibt, indem sie chronologisch sowohl die Geschichte der DDR als auch ihre Familiengeschichte nachzeichnet. 

Mit dem Kriegsende endete auch die NS-Karriere ihres Großvaters, der im besetzten Riga eingesetzt war und seine Familie ins „Schlachthaus” hat nachkommen lassen. Nach dem Krieg zog er aus Angst vor der Entdeckung seiner SS-Mitgliedschaft aus seiner Heimatstadt Dresden weg und kehrte erst dorthin zurück, als die Entnazifizierung im Osten abgeschlossen und mit der Gründung der DDR alle NSDAP-Mitglieder amnestiert wurden. Der Osten Deutschlands wurde schnell zur „umkämpften Zone”: marodierende und mordende Sowjets zogen nicht als Befreier, sondern als Eroberer durch die Ost-Zone. Walter Ulbricht, der aus der Emigration in Moskau nach Ost-Berlin zurückkehrte, wurde zur zentralen Figur in der DDR, denn er wusste sowohl um die alten Nationalsozialisten als auch um die in Buchenwald inhaftierten Kommunisten, die aber mit den Nazis kollaborierten, und konnte sich mit seinem Schweigen über ihre Taten ihre Unterstützung sichern. Zu einer Aufarbeitung der faschistischen Diktatur kam es nicht, vielmehr wurde der Mantel des Schweigens, auch in Geipels Familie, darübergelegt: „Die Bevölkerung schwieg über den Nationalsozialismus, die aus Moskau Zurückgekehrten schwiegen über den sowjetischen Terror.” Ulbricht verklärt perfiderweise den kommunistischen Widerstand in Buchenwald zum DDR-Staatsmythos: Wir sind eine solidarisch verbundene Opfergesellschaft, ohne Schuld. Geipel konstatiert, dass Ost und West getrennte kollektive Gedächtnisse haben. Als in Buchenwald eine Gedenkstätte von den Pionieren erbaut wurde, lernten sich die Eltern von Ines Geipel kennen. Geipels Vater wird der Aufbaugeneration zugerechnet: Er wurde durch das Hitler-System als Kind sozialisiert, war 11 Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging und 15, als die DDR gegründet wurde. Dort legte er eine DDR-Karriere hin: Lehre, Pionierleiter, FDJ-Chef, SED-Mitglied, später Spezialagent der Stasi mit Aufträgen im Operationsgebiet, der BRD. Solange die Jungen sich loyal dem Diktat der Alten beugten, durften sie aufsteigen. Mit den Ereignissen um den Prager Frühling 1968 war das System Ulbricht an sein Ende gekommen und Erich Honecker übernimmt und nimmt sogleich Kurskorrekturen vor: Statt Säuberungsaktionen, z.B. im Kulturbereich, übt er mit seinem modernen Geheimdienst eine subtile, stille und verdeckte Repression aus. Der Druck, der auf den Menschen lastete, wurde stellvertretend nach innen weitergegeben: Geipel schildert ihren Vater als enthemmten gewalttätigen Mann, der für die Kinder Ines und Robby eine Kindheit im Terror verursacht hat. Ausführlich wird das Thema des Antifaschismus im Osten nach 1945 dargestellt. Die zentrale Beobachtung lautet, dass im Osten ein lange aufgestauter Rassismus aufbrach und sich eine Neonazi-Szene gezielt und brutal formierte. 1989 flüchtete Ines über Ungarn und Wien in den Westen und landet in Darmstadt, wo sie begann, Philosophie zu studieren. Sie gehört damit zur „Generation Mauer”, die sich mühelos ins neue Deutschland integrierte. Auf den „schönsten Glücksfall der Geschichte” folgen Jahre der Enttäuschung über die Milde der rechtsstattlichen Justiz bei der Aufarbeitung der DDR-Diktatur und Jahre des offenen Rassismus in Ost und West. Die dritte Generation Ost („Einheitskinder”) ist laut Geipel die Geschichte vom Hass. Grund dafür ist der Verlust des Vertrauens in den neuen Staat, der Mangel an Idealen und Halt. In dieser Situation greifen sie auf das Größenselbst der Großväter zurück, das wie ein „eingekapselter Stabilisator” die Zeit überdauert. So wurde der Osten zum Experimentierfeld für rechte Gesinnungen. Geipel sieht in der bloßen Übertragung der westdeutschen Staatsdoktrin (Politik der Erinnerung, Holocaust als zentraler Identitätsbezug) auf den Osten eine enorme Überforderung. Ihr Fazit: Bis heute blendet das Mehrheitsbewusstsein im Osten den Holocaust aus. Geipels Forderung lautet deshalb nach einer echten Identitätsarbeit und nach einer Aufarbeitung der beiden Diktaturen und der Emanzipation von der doppelten Diktaturerfahrung. 

Didaktische Hinweise

Geipels Buch eignet sich hervorragend für Lehrkräfte, die eine Erklärung für die politische Entwicklung im Osten Deutschlands suchen. Gerade für die Vorbereitung des PuG- oder Geschichtsunterrichts ist dieses Buch eine echte Empfehlung. Auch für Referate z.B. zu den Themen Geschichte der DDR, Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands, politische Entwicklung im Osten Deutschlands oder die Rolle der Frauen in der DDR ist dieses Buch eine hervorragende Quelle für die Schülerinnen und Schüler und sollte deshalb in keiner Schulbibliothek fehlen. Ebenso ist denkbar, dass man einzelne Zitate im Rahmen einer Verfassungsviertelstunde thematisiert oder im Deutschunterricht den Kulturkampf 60er und 70er-Jahre mit Passagen aus dem Buch bespricht. In jedem Fall bietet das Sachbuch von Ines Geipel jede Menge Anknüpfungspunkte für eine aktuelle Debatte im unterrichtlichen Kontext. In diesem Zusammenhang sei auch auf die verschiedenen Fernsehdiskussionen mit Ines Geipel hingewiesen, die im Internet leicht abrufbar sind.

Gattung

  • Sachbücher

Sachbuchkategorie

  • Geschichte, Archäologie
  • Biografien, Autobiografien, Porträts
  • Politik, Gesellschaft

Eignung

für die Schulbibliothek empfohlen

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Geschichte
  • Sozialkunde/Politik und Gesellschaft

FÜZ

  • Politische Bildung

Erscheinungsjahr

2020

ISBN

9783608983807

Umfang

258 Seiten

Medien

  • Buch
  • Hörbuch
  • E-Book