mobile Navigation Icon

Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung

Besprechung

Antonio Scurati knüpft in Form und Inhalt an den ersten Band seiner Trilogie über Benito Mussolini an. Nachdem dort sein Aufstieg behandelt wurde, der im so genannten „Marsch auf Rom“ und in der brutalen Ermordung seines politischen Gegenspielers Giacomo Matteotti gipfelte, wird im nächsten Teil aufgezeigt, wie er die italienische Republik in den Jahren 1925 bis 1932 zu einer auf ihn zugeschnittenen Diktatur verformte. Dabei wechseln sich historische Dokumente wie Telegramme, abgehörte Telefonate, Reden oder Zeitungsausschnitte mit der nacherzählten Geschichte ab. Da das Verbrechen an Giacomo Matteotti den Ministerpräsidenten und seine Politik zunächst in eine tiefe Krise stürzte, musste er versuchen, den Faschismus in der Wahrnehmung der Italiener von Gewalt und Unterdrückung zu entkoppeln und ihm ein neues Image zu verpassen. Passend dazu sollte der Prozess um die Mörder an Matteotti in der Provinz und in aller Stille vonstatten gehen. Die mutmaßlichen politischen Auftraggeber wurden freigesprochen und die verurteilten Mörder erhielten Haftstrafen, die aber durch Gnadenerlass zum Thronjubiläum des italienischen Königs auf wenige Woche reduziert wurden. In einem unerträglichen Verfahren stilisierte der faschistische Verteidiger Matteotti zum Verleumder und den Täter Dúmini zum Opfer. Auf diesen Erfolg aufbauend ersetzte Mussolini innerhalb weniger Monate die öffentliche Verwaltung und sämtliche demokratische Prinzipien durch das autoritäre Prinzip. Auch seine Partei formte er nach seiner faschistischen Auffassung von Hierarchie um und führte sie dementsprechend autoritär, antiliberal und antidemokratisch. In einem hohen Takt schaffte sich das liberale Italien mehr und mehr ab:

1926: Der Gesetzesentwurf zur „Verteidigung des Staates“, d.h. repressive Maßnahmen, werden verabschiedet: Pässe von Dissidenten konnten eingezogen werden, alle oppositionelle Zeitungen und antifaschistische Parteien wurden verboten. Mit der letzten Abstimmung der letzten verbliebenen Oppositionellen endete das freie, politische Leben; gewählte Abgeordnete wurden ihres Amtes enthoben.

1927: Mussolinis entwarf in einer Rede einen Ausblick auf das faschistische Italien und sprach über seine Vorstellungen von „Rasse“. Er forderte außerdem die Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb eines Jahrhunderts und zeichnete das Bild eines neuen italienischen Imperiums. Immer wieder wird in diesem Band aufgezeigt, wie brutal die italienischen Kolonialherren in Afrika vorgingen: So genannte „Säuberungsaktionen“ wurden skrupellos durchgeführt, das geachtete Senfgas großflächig zum Völkermord eingesetzt und Konzentrationslager in der Wüste angelegt, um die Widerstandskraft der einheimischen Rebellen zu brechen.

1928: Mit der Reform des Wahlsystems wurde das endgültige Ende des Parlaments besiegelt.  

1929: Einer der großen innenpolitischen Erfolge Mussolinis stellten die bis heute gültigen Lateranverträge dar. Damit erfolgte nach jahrzehntelangem Streit eine Wiederaussöhnung mit dem Papst durch eine gegenseitige Anerkennung. Der Staat erkennt das alleinige Besitzrecht und die souveräne Macht des Heiligen Stuhls über u.a. die Vatikanstadt an, der Papst verzichtet im Gegenzug auf Macht und erkennt das Haus Savoyen als Königshaus an. Die Kirche erhält zahlreiche Privilegien und finanzielle Zulagen. Papst Pius XI. nannte Mussolini öffentlich den „Mann der Vorsehung“ und bekräftigte damit das Narrativ vom auserwählten Retter, der im Dienst der Nation steht. Einige überlebte Attentatsversuche trugen ebenfalls zu dieser Legendenbildung bei und waren sicherlich ein Grund für Mussolinis enormen Wahlerfolg im Jahr 1929.

Didaktische Hinweise

Sicherlich ist dieses Buch für eine Klassenlektüre viel zu umfangreich. Mit ausgewählten Auszügen kann aber deutlich gemacht werden, dass Italien lange vor Deutschland zu einer faschistischen Diktatur wurde. Italia docet! 1922, Mussolini ist da schon Ministerpräsident, schaute man in Italien noch auf Hitler als einen pangermanistischen Sonderling, der in Braukellern Staatsstreiche ausheckt und den Mussolini nicht zu einem Gespräch zulässt. Im Buch wird überdeutlich aufgezeigt, wie Faschismus „funktioniert“.

Im Jahr 2022 jährte sich der so genannte „Marsch auf Rom“ zum hundertsten Mal und eine Politikerin, deren Partei unverhohlen an die Tradition ihrer Vorgängerorganisation (MSI) anknüpft, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte „den Faschismus des Jahres 2000“ zu errichten, wurde italienische Premierministerin. Es ist wichtig in dieser Zeit, in der Italien von einer Politikerin regiert wird, die in ihrer Jugend Mussolini für „den besten Politiker der letzten fünfzig Jahre“ hielt, sich genau damit zu beschäftigen. Es ist wichtig, auch schon kleine Anzeichen der Veränderung des demokratischen Systems zu erkennen und als solche wahrzunehmen. Als demokratische Bürgerinnen und Bürger sollten wir uns immer wieder unserer fragilen Geschichte bewusst werden. Der Lyriker Durs Grünbein beschreibt die Lage im Herbst 2022 so: „Die spät geborenen Schüler des Duce und seiner Politik für die Massen sind am Ziel. Von Mussolini lernen heißt, eine Öffentlichkeit schaffen, die sich alles bieten lässt.“ 

Der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer erklärte bei seinen Schulbesuchen: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“ Bücher wie die von Antonio Scurati helfen dazu, den Blick über den deutschen Tellerrand hinaus zu wagen und zu verstehen, was war. 

Gattung

  • Romane

Eignung

in Auszügen geeignet und zum Vorlesen

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Geschichte
  • Italienisch
  • Sozialkunde/Politik und Gesellschaft

FÜZ

  • Interkulturelle Bildung
  • Politische Bildung
  • Werteerziehung

Erscheinungsjahr

2021

ISBN

9783608984576

Umfang

614 Seiten

Medien

  • Buch
  • E-Book