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Martin Schäuble: Alle Farben grau

Besprechung

Der Jugendroman „Alle Farben grau" von Martin Schäuble greift mit dem Suizid eines Sechzehnjährigen ein Thema auf, das so wichtig wie schwierig ist und die Leserinnen und Leser nicht unberührt lässt. Im Zentrum steht die Geschichte von Paul, die sich allmählich entfaltet und wie ein Mosaik aus verschiedenen Perspektiven zusammensetzt. So finden sich Textpassagen, die aus der Perspektive von Paul erzählt werden, aber auch solche, aus der Perspektive seiner Freundinnen und Freunde, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrkräfte und seiner Mutter sowie seines Vaters. Diese Multiperspektivität ermöglicht es, Paul von verschiedenen Seiten kennenzulernen. Das personale Erzählverhalten ermöglicht einen Blick ins Innere des jeweiligen Erzählers oder der Erzählerin, der hilft, das Geschehen einzuordnen und zu bewerten, und eine Außensicht auf andere Figuren, primär natürlich Paul, die Distanz schafft. So lernen die Leserinnen und Leser einerseits Paul sehr gut kennen, zugleich werden aber auch seine Probleme und Unzulänglichkeiten immer deutlicher.

Dabei wird das Geschehen nicht chronologisch entwickelt, sondern der Roman umfasst einen Zeitraum von circa drei Jahren, innerhalb dessen er hin- und herspringt und auf diese Weise die Geschichte von Paul als einem hochintelligenten und an vielem sehr interessierten jungen Menschen entfaltet, für den Mathematik, die Musik von David Bowie oder die Känguru-Chroniken von Marc-Uwe Kling sehr wichtig sind, der japanisch lernt und ein Jahr in einem Internat in Japan verbringt, der jedoch immer schon anders als andere Kinder und Jugendliche war und große Schwierigkeiten hat, eine enge Bindung zu seinen Mitmenschen aufzubauen, sodass er sehr einsam ist.

Zu Beginn des Romans befindet sich Paul in der Gesellschaft von Alina, Justin und Katharina in der Klinik für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, in die er gegen seinen Willen eingeliefert wurde, nachdem er seiner Mutter den Entschluss zum Suizid mitgeteilt hat. Bei dem Klinikaufenthalt wird nicht nur eine schwere Depression diagnostiziert, sondern auch, dass er Autist ist und an dem Asperger-Syndrom leidet. Obwohl seine Eltern sehr um ihn bemüht sind und einfühlsam mit ihm umgehen, erreichen sie ihn nicht, denn er zieht sich stark zurück und betäubt die innere Stimme, die ihm beständig die eigene Wertlosigkeit einredet, und das Leiden daran, dass ihm alles grau und trostlos erscheint, mit Cannabis. Als die Eltern nach dem Klinikaufenthalt denken, dass es ihm besser geht, weil er ab und an aus seinem Zimmer kommt und auch Kontakt zu Freunden aufnimmt, sind sie erleichtert, verkennen aber, dass er seine Entscheidung längst getroffen hat und nur Abschied nimmt, dieses Mal ohne ein explizites Signal bezüglich seines Vorhabens zu senden und ohne dass implizite Signale wahrgenommen werden, etwa dass er seinen Schlüssel liegenlässt.

Der Jugendroman von Martin Schäuble beruht, wie er in einem Interview in der SZ vom 8. September verdeutlicht, auf einer wahren Geschichte, die er jedoch literarisiert hat. Er bietet den Leserinnen und Lesern kein Happy End, sondern wirft viele Fragen auf, etwa ob und wie dieses Ende zu vermeiden gewesen wäre. Dabei kommen auch Jugendliche aus Pauls Umfeld zu Wort, die ähnlich düstere Gedanken haben wie er, die sich selbst verletzten und die seine Entscheidung sehr belastet. Dies kommt etwa in dem Bild von Alina und Noah zum Ausdruck, es sei wie nach einem Atomkraftwerksunfall. „Wir sind jetzt alle verstrahlt“, sage ich. „Genau“, sagt Alina. „Für niemanden von uns ist das Leben nach der Katastrophe wieder so wie früher.“ Ich muss erst mal schlucken und überlege, wie recht sie hat [...] In allen von uns ist was gestorben, wir sind alle verstrahlt.“ (S.259) Auf diese Weise verdeutlicht der Roman sehr anschaulich, wie schwer es für die Eltern, Geschwister und den Freundeskreis von Paul ist, nach dessen Suizid weiterzuleben.

Zugleich zeigt Schäuble durch das multiperspektivische Erzählen, dass Personen aus Pauls Kontext zwar zeitweise in einer ähnlichen Situation waren wie Paul, aus dieser jedoch durch Anti-Depressiva oder andere  therapeutische Hilfe herausgefunden haben. Sie konnten für sich entdecken, dass sie noch Wünsche an das Leben haben, was ihnen hilft, die eigenen Krisen zu bewältigen und gestärkt aus diesen hervorzugehen. Damit lässt der Roman seine jugendlichen und erwachsenen Leserinnen und Leser nicht hoffnungslos zurück, sondern zeigt auf einfühlsame Weise Alternativen zu Pauls Weg auf. Darüber hinaus finden sich zu Beginn und am Schluss des Romans Hinweise, wo Menschen Hilfe finden können, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie Paul. Der Autor möchte dazu beitragen, dass offen über psychische Erkrankungen gesprochen wird und dass sich Betroffene nicht allein gelassen fühlen, sowohl suidizgefährdete Menschen als auch deren Umfeld, das durch das Buch sensibilisiert wird, genau hinzusehen und das Gespräch zu suchen, wenn es anderen nicht gut geht.

Didaktische Hinweise

Der Roman greift ein sehr wichtiges und für Jugendliche relevantes Thema auf, denn Statistiken zeigen, dass jeder Dritte im Jugendalter über Suizid nachdenkt und es die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen ist, die auf der Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens und nach ihrem Platz in der Gesellschaft häufig von widersprüchlichen Gefühlen begleitet werden. Seit Corona hat sich diese Tendenz verstärkt. Auch der Roman spielt während der Coronazeit und thematisiert die mit Schulschließungen einhergehende Einsamkeit.

Obwohl das Thema für junge Menschen von großer Relevanz ist, ist es tabuisiert und schambehaftet, denn wie im Roman eindrücklich gezeigt wird, fühlt sich jeder im Umfeld eines Suizids schuldig und hat den Eindruck, versagt zu haben, im Besonderen betrifft es die Eltern, aber auch die Geschwister, den Freundeskreis etc. In einem Interview beschreibt Martin Schäuble, dass er sich bei den Recherchen für das Buch gemeinsam mit dem gesamten Umfeld des Jugendlichen dessen Lebensweg er als Ausgangspunkt des Romans genommen hat, auf eine Reise begeben hat, „um herauszufinden, wieso alle Farben grau waren für Paul." (vgl. SZ vom 8.9.2023)

Der Roman eignet sich als Klassenlektüre, da er ein sensibles Thema anspricht, das für jugen Leserinnen und Leser bedeutsam ist, bei dem sie aber nicht alleine gelassen werden sollten, sondern sich mit anderen austauschen, um sich gegebenenfalls auch helfen zu lassen, wenn ihnen das Thema zu nahe geht. Vermutlich werden sich einige Eltern und Lehrkräfte besorgt fragen, ob labile Jugendliche aufgrund dieser Lektüre selbst einen Suizidversuch unternehmen könnten. Der Verlag hat einen Elternbrief zu diesem Fragen verfasst, auf den zurückgegriffen werden kann und der erläutert, warum es wichtig ist, das Thema nicht totzuschweigen, sondern anzugehen. Jugendlichen wird durch die Lektüre des Romans und die Behandlung im Unterricht ermöglicht, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen Auswege aus Krisensituationen zu besprechen, die sie beschäftigen. Nicht ein Wegschauen, sondern das Hinschauen und Ansprechen ist die beste Prävention und dies berücksichtigt der Roman, der dazu beitragen möchte, Frühwarnsignale bei sich und anderen rechtzeitig zu erkennen, um Hilfe zu holen. Darüber hinaus wählt Schäuble mehrere Strategien, um dem sogenannten Werther-Effekt entgegenzuwirken: Er schildert keine Details zum Vorgang des Suizids und er verhindert eine Identifikation mit der Hauptperson, indem er mehrere Personen aus seinem Umfeld zu Wort kommen lässt und somit unterschiedliche Perspektiven auf die Thematik entwickelt, Auswege aus der Krise anhand anderer Figuren aufzeigt sowie Strategien und Hilfsangebote benennt.

Der Roman endet, wie die wahre Geschichte, die er aufgreift, nicht positiv, und doch zeigt er auf, dass es Alternativen zum Suizid gibt und dass es wichtig ist, mit den suizidgefährdeten Menschen ins Gespräch zu kommen, genau hinzusehen und hinzuhören, um gemeinsam wieder Farben ins Leben zu sehen. Dabei kann die Lektüre des Romans und können die vom Fischer Verlag entwickelten Materialien über psychische Erkrankungen bei Jugendlichen einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist ein sehr mutiges Buch, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.

Gattung

  • Romane

Eignung

als Klassenlektüre geeignet

Altersempfehlung

Jgst. 8 bis 9

Fächer

  • Deutsch
  • Ethik/Religionslehre (Evang. Religionslehre

FÜZ

  • Werteerziehung
  • Soziales Lernen
  • Gesundheitsförderung

Erscheinungsjahr

2023

ISBN

9783737343299

Umfang

270 Seiten

Medien

  • Buch